Umarmen statt Treten

Ich kann mal wieder nicht schlafen. Wegen meines Gerechtigkeitsinns. 
In der Pandemie wird er besonders strapaziert. Weil ich sie nicht ertragen kann. Diese Ungnade, die Lieblosigkeit, das Aburteilen und Ausgrenzen. 

Seit einigen Wochen lese ich sie immer wieder, die Berichte von Familien unter dem Hashtag #Coronaeltern. Sie erzählen nicht nur, wie es ihnen in der #Pandemie geht, sie bitten um Hilfe. Weil viele nicht mehr können.
(Einen guten Überblick gibt es bei @ganznormalemama: https://ganznormalemama.com/2020/05/17/eltern-sorgen-wegen-corona-ich-werde-meinen-job-kuendigen-muessen-sonst-ist-es-nicht-zu-stemmen/)

Die meisten Eltern, die ich kenne, schlagen sich irgendwie durch und sagen einander highfive-mäßig: „Das kriegen wir schon hin.“ Einige haben auch gar keine Probleme, weil ohnehin immer ein Elternteil zuhause war, der soziale Stress mit der Schule wegfällt oder die Kinder schon grösser sind. 
Die meisten aber heulen sich abends heimlich in den Schlaf. Oder arbeiten nach. Oder rufen die Großeltern an. Oder können nicht schlafen, weil der Kopf nicht zur Ruhe kommt.
Weil die Kinder nicht schlafen können, weil auch ihnen social distancing an die Substanz geht. Weil sie ihre Großeltern vermissen. Angst vor einer Ansteckung haben. Oder sie sich Sorgen machen wegen der Schule. Kinder lernen am besten im freien Spiel. Sie verkümmern zuhause. Auch diesen Kummer tragen Eltern mit. 

Deshalb fragen sie sich: Wie soll das weitergehen? Bald drei Monate Homeoffice und Kinderbetreuung und Homeschooling. Und keine Unterstützung von den Großeltern oder Freunden wegen der Kontaktbeschränkungen. Ohne ein Ziel. Ohne eine Lösung.
Wie soll die Wirtschaft wieder angekurbelt werden, wenn spätestens in einem halben Jahr die Familien kollektiv einen Burnout haben? Und vielleicht in Folge dessen irgendwann keinen Job und kein Zuhause mehr? Wer hilft dann unseren Kindern? Und was bedeutet das für das Gesundheitssystem? 

Die Reaktionen der Politiker darauf ist bisher kaum vorhanden oder oft lapidar wie: acht Wochen Pandemie seien doch nur zwei Wochen mehr als die Sommerferien.
Was verdeutlicht, wie weit weg viele Politiker vom Alltag der Familien sind. In den Ferien wird das Kind nicht beschult, Großeltern passen ab und zu darauf auf, es kann mit anderen Kindern spielen und hat keine Angst und keinen Stress wie in Corona-Zeiten. Und die richtigen Sommerferien kommen erst noch. 

Nun hat sich die Politik entschieden, Eltern doch länger zu unterstützen – allerdings nur zehn Wochen im Jahr und nur mit 67  Prozent des Gehalts.
Die meisten können sich das nicht leisten – zumindest nicht über Monate hinweg. Denn die meisten Kinder gehen noch nicht wieder zur Schule oder in die Kita. Und selbst wenn – sind sie an den meisten Tagen doch im Homeschooling.
Das bedeutet entweder unbezahlten oder bezahlten Urlaub nehmen. Für mehrere Wochen. Der Familienurlaub 2020 ist damit vom Tisch. Erholung für doppelt belastete Eltern auch. Andere kündigen deshalb ihren Job. Oder lassen sich kündigen. Weil sie wegen der Doppelbelastung die erforderliche Leistung nicht mehr erbringen können. 

Während andere darüber diskutieren, ob man im Sommer wieder ins Ausland reisen darf, ziehen Eltern weiter bis zu den Ferien durch. Und die sechs Wochen Ferien dann auch noch. Weil keine Urlaubstage mehr da sind. Und auch kein Geld mehr, wegen der Kürzungen, wenn man auf sein Kind aufpasst statt zu arbeiten. 

Versteht mich nicht falsch: Ich bin dankbar, in Deutschland zu leben. Ich bin dankbar, gesund zu sein. Ich finde, dass unsere Politiker in der Pandemie grundsätzlich einen guten Job machen. Und selbst wenn nicht: Auch sie sind Menschen, sie dürfen Fehler machen. Auch sie gehen nach Wochen im Alarmmodus auf dem Zahnfleisch.
Aber über die Bundesliga zu diskutieren und Millionen in die Lufthansa zu investieren, anstatt sich Gedanken über langfristige Lösungen für Familien zu machen, ist schon etwas bizarr. Ich hoffe sehr, dass sich das noch ändert. 

Denn Eltern wollen in ihrer Not ernst genommen werden. Sie machen sogar konstruktive Vorschläge (zum Beispiel bei @editionf: https://editionf.com/coronaeltern-drei-ideen-fuer-die-politik) Stattdessen passiert in der Gesellschaft aber etwas Merkwürdiges:

Ich vergleiche das mit einer Frau unter der Geburts eines Kindes, die ihren Schmerz rausbrüllt. Durch einen Mundschutz.
Doch statt einer Hebamme, die sie beruhigend begleitet, einem Partner, der sie berührt, und Ärzten, die ab und zu schauen, wie man ihr helfen kann, steht der Kreissaal plötzlich voll mit Männern (nicht ausschließlich, aber seltsam oft) ab Ende Fünfzig, die meckern oder sogar lauthals brüllen: „Stell dich nicht so an! Wenn ich meine Hämmhoriden auskacke, schreie ich doch auch nicht so rum!“ 

Das ist ein drastisches Bild, ich weiß. Weil die Realität aber drastisch ist. Viele Eltern sind am Ende ihrer Kräfte. Auffällig viele Mütter. Nicht wegen ihrer Kinder. Sondern für ihre Kinder. Und das letzte, was sie dann brauchen, ist das #Bashing von Leuten, die nicht in denselben Schuhen unterwegs sind.
#Coronaeltern scheinen die neue #GretaThunberg zu sein, was das Niedermachen angeht. Schon dieses respektlose auslachende Emoticon in den sozialen Netzwerken geht mir grandios auf den Sack.
Wir brauchen mehr gegenseitiges Verständnis. #Mitgefühl. Zumindest solange es noch möglich ist. Denn irgendwann können Eltern nicht mehr. Und das möchte, glaube ich, niemand erleben. 

Ich hatte das schon. Vor vier Jahren. Als Markus #Suizid begangen hat. Ich möchte nicht wissen, wie hoch die #Suizidrate zurzeit ist. Und wie sehr sie noch steigen wird.
Dass Menschen am Rande ihrer Kräfte zu irrationalen Entscheidungen tendieren, ist leider Fakt. Und viele Eltern sind gerade stark belastet.
Damit das nicht passiert, damit es keine andere Art Welle gibt, muss etwas passieren. Eltern brauchen Entlastung. Zumindest in Aussicht. Ein Hinsehen. Und zwar bald. 

Erst im Januar habe ich darüber einen Artikel für @Tollabea geschrieben. Könnt ihr hier nochmal lesen: https://www.tollabea.de/trotz-dem-ueber-das-hinschauen-nach-suizid/

Nicht hinsehen hilft niemandem. Denn ohne Eltern gibt es keine Gesellschaft. Und ohne Kinder keine Zukunft. Oder um es wirtschaftlich auszudrücken: Dann haben wir vielleicht einen von EU-Fördermitteln finanzierten ökologisch und fair produzierten VW, aber kaum jemand, der ihn kaufen wird.

Wenn es euch gut geht in der Pandemie, freut mich das. Ehrlich und von Herzen. Das ist eine wichtige Ressource. Aber: Behaltet sie nicht für euch. Teilt sie. Fragt, wie ihr anderen helfen könnt. Seht hin. Hört zu. Werdet aktiv. Gebt etwas ab von euren Ressourcen.
Und hört bitte auf, über das Leben anderer zu urteilen. Nicht nur in einer Pandemie. Grundsätzlich: Lasst uns liebevoller zueinander sein. Wir alle brauchen jetzt viel mehr Liebe. Denn das macht uns alle stark gegen Covid-19. 


Ps: Wie es uns geht? Ähnlich wie anderen Corona-Eltern auch. Die Lütte Locke darf als Erstklässlerin erst wieder in knapp vier Wochen in die Schule. Sie war dann drei Monate zuhause. Und geht dann vier Wochen lang an einzelnen Tagen in die Schule. Um danach sechs Wochen Ferien zu haben.
Da wir immer noch auf einer #Baustelle leben, in zwei Räumen (ein Wohn-, ein Schlafraum) sind acht Stunden #Homeoffice und #Homeschooling und Studium und Arbeit an fünf Tagen in der Woche mehr als eine Herausforderung.
Zeit für uns alleine? Gibt es nachts. Nachdem wir nachgearbeitet oder uns wegen der Baustelle abgesprochen haben. Dann entstehen auch solche Texte.
Da Großveranstaltungen bis zum Herbst ausfallen, verlieren wir unser gesamtes Nebeneinkommen von den Märkten. Das wiederum fehlt uns jetzt am Ende der Sanierung. Mit anpacken von Freunden geht wegen der Kontaktbegrenzung auch nicht mehr. 

Soweit die Fakten. Wie wir damit umgehen? Wir suchen nach Lösungen. So wie immer. Aber es gibt weniger Möglichkeiten als sonst. Und wir merken an der Lütten Locke, dass auch wir immer weniger werden.
Sie fiebert dem Wochenende entgegen, in der Hoffnung, dass wir dann endlich mit ihr spielen. Ihr häufigsten Sätze sind: „Nie habt ihr Zeit.“ und „Immer seid ihr müde.“ Beides stimmt. Leider. Ich wünschte mir von Herzen, es wäre anders. Und es wird auch anders. Irgendwann. Vage gesagt. 

Das Perfide ist aber: Ich weiß, dass andere Eltern nicht nur müde sind. Dass sie so erschöpft sind, dass sie irgendwann zu Suchtmitteln greifen. Dass die Gewalttaten gegen Kinder und Frauen zunehmen, ist schon bekannt. Der psychische Druck wächst. Vielen Kindern geht es richtig mies. (Zum Nachlesen: https://www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/hannover_weser-leinegebiet/Corona-Krise-Kinder-verschwinden-vom-Radar,corona3116.html)

Es gibt eben noch viel mehr nach „müde.“ Und genau das lässt mich nicht gut schlafen. Und macht mich noch mehr müde. Und das ist nicht gut.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert