„Kinder sind nur so traurig, wie sie traurig sein können“ – Trauer-Talk mit Mechthild Schroeter-Rupieper

Man könnte sagen, sie hat – zumindest im westdeutschen Raum – die Arbeit mit trauernden Familien “erfunden”. Jedenfalls ist Mechthild Schroeter-Rupieper eine der Pionierinnen, wenn es darum geht, Kinder in ihrer Trauer zu verstehen und diese ihrem Umfeld zu erklären. Ihre Bücher sind Standartwerke und sie ist die Gründerin der LAVIA-Trauerbegleitung, einem Angebot für trauernde Familien im Ruhrgebiet.

Wir haben mit ihr darüber gesprochen, in wieweit Kinder anders trauern, was hilft und was nicht, und was im Bezug auf Suizid dringend anders werden muss:

Frau Schroeter-Rupieper, Sie sind Familientrauerbegleiterin: Wie kam es dazu?

Ich komme ursprünglich aus der Jugendarbeit, bin dann Erzieherin geworden und habe später einen Kindergarten geleitet. Zwischendurch habe ich immer wieder im Familienbereich der KFD gearbeitet, das ist die Katholische Frauengemeinschaft. Da ging es um die Arbeit mit verwitweten, aber auch mit geschiedenen Frauen. Damals war das sehr fortschrittlich, erst recht innerhalb der Kirche.

Als ich vor einunddreißig Jahren mit meinem ersten Sohn schwanger war, habe ich als Kindergartenleiterin aufgehört. Da hat mich ein Pater gefragt, ob ich mit ihm zusammen Fortbildungen im religionspädagogischen Bereich anbieten würde. Dann kam ein Auftrag von der Caritas. Wir sollten eine Fortbildung machen zum Thema Tod und Trauer. Das gab es vorher nicht; es gab auch kaum Bücher dazu. Wir haben uns das dann wirklich erarbeitet: der Pater zur Frage, was die Bibel dazu hergibt, und ich dazu, wozu es Trauer überhaupt braucht.

Ich habe mich auf die Suche gemacht nach Büchern; habe Leute gefragt und dann ganz schnell gemerkt: Es braucht Trauer, aber Trauer wird oft nicht gelebt. Wir werden groß, indem uns immer wieder gesagt wird: „Sei doch nicht so traurig. Das ist noch nicht schlimm. Das tut doch nicht weh.“

Wir haben die Fortbildung gestartet, dann kamen Folgefortbildungen und irgendwann gab es aus den Kindergärten Anfragen: „Hier ist jemand gestorben. Kannst du mal vorbeikommen?“

Und dann sind Sie einfach so „vorbeigekommen“?

Ja. So bin ich erst in die Praxis reingekommen, habe mich dann weitergebildet in Palliative Care, Sterbe- und Trauerbegleitung. Aber das war immer auf der Erwachsenenebene. Eine Fortbildnerin hat damals gesagt, dass Kinder das nicht brauchen, denn die hätten Selbstheilungskräfte. Ich wusste aber aus meiner Arbeit und von mir selbst, dass das nicht stimmt.

Die Pädagogik damals war: Wenn Kinder nichts sagen, dann sind sie nicht traurig. Es wurde immer gesagt, wir Erwachsenen müssten uns eine Scheibe von Kindern abschneiden, weil die so frei und fröhlich sind. Aber das sind sie nur, weil die Gehirnreifung noch nicht fortgeschritten ist und sie die Dimension von „tot“ noch nicht begreifen und auf keine lange Lebenserfahrung zurückschauen können. Deshalb reagieren Kinder so. Sie sind so traurig, wie sie traurig sein können. Und sie können nun mal nicht so traurig sein wie Erwachsene.

Wie sind Kinder denn traurig? Wie unterscheidet sich ihre Trauer von denen Erwachsener?

Kinder betrauern die Momente, wo ihnen bewusstwird, dass jemand fehlt. Wenn ein anderes Kind sagt, dass es am Nachmittag mit dem Papa schwimmen geht – in dem Moment wird das Kind traurig, weil sein Papa tot ist. Es ist situativ.

Wenn Kinder erfassen würden, wie traurig das alles ist, könnten sie gar nicht gesund großwerden.

So bekommen sie immer nur peu à peu etwas mit – und das müssen sie bearbeiten dürfen, um für die nächste Welle gewappnet zu sein.

Wenn Eltern aber sagen, dass das Kind nicht traurig sein soll, wie kann es dann lernen, den Verlust Stück für Stück zu bewältigen, so wie es ihrer Entwicklung angemessen ist? Dann erwischt es sie irgendwann mit voller Wucht. Ich sage immer: Genauso wie wir eine körperliche Muskulatur brauchen, brauchen wir eine emotionale – und die muss aufgebaut werden.

Wie könnte das aussehen, die emotionalen Trauermuskeln aufzubauen?

Indem man sie zuerst einmal sieht. Ich arbeite da mit Gefühlsmonster-Karten. Auf einer liegt ein Kind unter der Decke, auf einer anderen strampelt es auf dem Boden und ist wütend. Ein Kind ist müde und gähnt, eins ist richtig gemein-biestig, während sich ein anderes versteckt. So viele Reaktionen! Wenn ich Eltern frage, wie ihre Kinder sind, wenn sie traurig sind, dann irritiert sie das oft erst mal, weil sie ihre Kinder häufig gar nicht so traurig wahrnehmen. Durch die Bilder auf den Karten merken sie: Wenn mein Kind traurig ist, wird es wütend.

Das Kind verliert bei Mensch-ärgere-dich-nicht und schmeißt daraufhin das Spielbrett vom Tisch und schreit rum: „Alles ist scheiße, alles ist kaputt, immer verliere nur ich.“ Im Grunde wird der Tod vom Papa beweint und nicht in erster Linie das Spiel. Aber darüber kann es sich zeigen. Natürlich können Eltern dann sagen, dass es nicht geht, das Spiel einfach runterzuschmeißen, aber bitte in Verbindung mit Sätzen wie „Ich glaub dir, dass du wütend bist. Das ist auch traurig!“

Wenn ich die Karten Erwachsenen hinlegen, dann entdecken sie sich darin genauso.

Kaum jemand ist in seiner Trauer erkennbar, weil wir alle ein „nach außen“ und ein „innendrin“ haben.

Bei Kindern kommt nur noch dazu, dass sie diese Dimension des Sterbens erst nach und nach begreifen.

Wie sieht dieses zeitversetzte Trauerbegreifen bei Kindern aus?

Ich habe ein Mädchen, Emma, da ist die Mama gestorben, als sie neun war. Ein kluges Mädchen. Sie hat ihrer Mama einen Brief geschrieben. Darin stand, dass sie jeden Abend zu Gott betet, dass er sie zurückbringt. Aber für den Fall, dass es Gott nicht gibt, soll sie es allein versuchen.

Emma ist klug. Wenn man ihr sagt: „Die Mama ist tot und kommt nicht wieder zurück“, dann wird sie sagen: „Nein, ich weiß.“ Emma weiß genau, was wir Erwachsenen hören wollen. Als 14-Jährige hat sie gesagt: „Weißt du, ich habe gedacht: Bewiesen hat das doch noch niemand, dass meine Mama wirklich nicht zurückkommen kann.“ In der Pubertät finden noch mal Verknüpfungen im Gehirn statt. Erst da begreift man, dass jemand nicht mehr wiederkommt.

Eine Mutter, deren Partner stirbt, als das Kind vier Jahre alt ist, ist sehr traurig, aber überwindet irgendwann diesen Trauerschmerz. Das Kind fängt aber plötzlich an zu trauern, als es acht, neun oder zehn Jahre alt ist und dann noch mal in der Pubertät, wo schon längst ein neuer Partner da ist.

Diese Trauer kommt bei Kindern und Jugendlichen oft nicht so raus, dass sie aufstehen und sagen: „Jetzt bin ich traurig.“ Es verwirrt sie selbst. Darum muss man wissen: Wenn jemand in der Kernfamilie stirbt, hat das auch später noch Auswirkungen. Man sollte nicht denken, das Kind war zum Glück noch klein, das macht nichts aus. Wir haben Kinder, da sterben die Eltern in der Schwangerschaft, und die fangen mit sechs Jahren plötzlich an zu trauern.

Wie kann man Kinder dann in ihrer Trauer unterstützen?

Man könnte sagen: „Ich lade dich in den Zoo ein, weil das so traurig ist, dass dein Papa gestorben ist. Dann tut es gut, wenn wir was Schönes miteinander machen.“ Also beides benennen dürfen, damit deutlich wird: Es ist etwas Trauriges passiert, es braucht dann aber auch Hilfreiches.

Wichtig ist, dass man nicht ausweicht, wenn Kinder das Thema ansprechen, und dass auch gute Freunde von sich aus das Thema ansprechen dürfen, indem sie zum Beispiel den Verstorbenen immer wieder erwähnen: „Ich glaube, das hätte ihm gut gefallen!“ Auch Angebote machen wie zusammen am Grab vorbeizugehen, um dort eine Kerze anzuzünden und Mama oder Papa zu erzählen, was man erlebt hat.

Wenn das Kind das nicht braucht, aber auch nicht enttäuscht sein. Es ist trotzdem gut, solche Angebote zu machen, weil Kinder von sich aus oft nicht danach fragen. Wenn Trauer da ist, die dann auch bestätigen und sagen. „Das ist wirklich traurig!“ Oder auch eigene Trauer benennen: „Ich kenne das auch. Ich muss dann manchmal einfach weinen …“ Wir brauchen das Weinen, um Druck ab- oder die Wut rauszulassen oder um Fragen auszuhalten.

Man darf auch zugeben, wenn man etwas nicht weiß – und dann vielleicht gemeinsam nach einer Lösung suchen. Auch wenn es um Suizid geht. Dabei immer ehrlich sein.

Und was sollte man auf jeden Fall vermeiden?

Dass jemand total verherrlicht wird oder über jemanden gar nicht gesprochen wird. Und natürlich auch so Sätze wie: „Ist doch nicht so schlimm, sei doch nicht so traurig!“ Denn das ist genauso fahrlässig, wie wenn man zu jemandem, der etwas geschenkt bekommen hat, sagen würde: „So toll ist das jetzt auch nicht – hör mal auf, dich zu freuen!“

Nehmen Sie bei Ihrer Arbeit mit trauernden Kindern auch das Umfeld mit ins Boot?

Ich selbst informiere das Umfeld in der Regel nicht, denn oft tut den Hinterbliebenen gut, es selbstauszusprechen. Ich mache aber das Angebot, dass zum Beispiel die Schule mit mir Kontakt aufnehmen darf. Ich biete auch an, in der Schule vorbeizukommen. Dabei ist es mir wichtig, dass das Kind nicht im Mittelpunkt steht, sondern der Anlass. Dass man sagt, dass die Mama von Paula gestorben ist, und wir deshalb über Traurigkeit reden wollen – weil jeder Mensch das Traurigsein kennt. Vielleicht nicht, weil die Mama gestorben ist, aber womöglich haben sich die Eltern getrennt. Ich zähle dann ein paar Sachen auf.

Wenn ein Schüler sich das Leben genommen hat, bietet sich es an, in der Schule über den Umgang mit Krisen zu sprechen und über Suizid. Das fragen die Schulen oft auch selbst an.

Wenn Paul zu mir kommt, von dem der beste Freund gestorben ist, und er sagt, dass er gerne einen anderen Freund mitbringen würde, dann machen wir das. Das finde ich wertvoll, weil Freunde ja ganz schön was aushalten müssen. Die sind oft unsicher, ob sie etwas ansprechen sollen oder nicht. Trauernde Menschen sind auch oft schlecht gelaunt oder lassen die Wut an ihren Nächsten aus – darüber kann man auch sprechen.

Brauchen Kinder, die einen Suizid in ihrem Umfeld erlebt haben, eine besondere Unterstützung?

Solange sich in der Gesellschaft nichts ändert, brauchen sie etwas mehr Unterstützung. Ich habe drei Mädchen, deren Vater sich das Leben genommen hat. Die sind ganz offen damit umgegangen, haben ihrem Vater keine Vorwürfe gemacht. Nach einem Jahr sagen sie, dass sie diesen Makel niemals loswerden. Was soll das? Was macht diese Gesellschaft mit diesen drei jungen, gesunden, netten Kindern? Wie kommt es, dass sie denken, dass sie einen Makel haben?

Früher hatte ich keine extra Gruppe für Trauer nach Suizid, weil ich keine Ausgrenzung wollte. Wenn wir aber eine extra Gruppe aufmachen, weil der Bedarf bei den Trauernden da ist, dann ist es langfristig mein Ziel, dass wir irgendwann mit denjenigen, die stabil genug dafür sind, nach draußen gehen. Dass wir darüber sprechen und darauf aufmerksam machen, dass sich niemand aus Spaß das Leben nimmt.

Suizid kann die Nebenwirkung einer Depression sein, von Tabletten, Drogen, Stress, einer Krise, Burnout usw. Suizid kann ähnlich eine Folge wie der Tod nach einer Krebserkrankung sein. Niemand kann sich davor schützen und sagen, das könnte ihm nicht passiert. Wir möchten unsere Jugendlichen stärken, damit sie irgendwann mit einem Selbstverständnis rausgehen. Da erleben wir immer wieder, dass es dafür Respekt gibt, kein Auslachen, wenn es offen gemacht wird.

Was ist Ihnen in Bezug auf Suizid besonders wichtig?

Die Haltung der Gesellschaft muss sich ändern.

Es kann doch nicht sein, dass es so viele Suizide gibt und trotzdem die halbe Menschheit so tut, als ob das bei ihnen nicht vorkommt.

Schlimm sind auch die Geheimnisse, die entstehen, wenn man nicht offen damit umgeht. Die ziehen immer Unheil nach sich. Wir erleben, dass eine Mutter ihrem achtjährigen Jungen sagt, dass er seinen Geschwistern nichts vom Suizid erzählen darf und auch nichts der Schule. Welche Last das ist!

Oder die Eltern eines Mannes, der sich das Leben genommen hat, sagen der Schwiegertochter, dass sie es ihrem Kind nicht sagen darf. Die kann sich nicht wehren, sagt es dem Kind nicht, und das fängt plötzlich an einzunässen und einzukoten und sich im Kindergarten zu prügeln. Die Erzieherinnen sehen die Not des Kindes, sprechen die Mutter an, aber die kommt nicht gegen die Schwiegereltern an.

Da sitze ich dann und sage der Mutter: „Schau, dein Kind wird jetzt abgestraft. Irgendwann kommt dein Kind in die Behandlung, dabei müsste man dich und deine Schwiegereltern behandeln.“ Ich sage es oft so deutlich, weil das Verschweigen Störungen in Familien und letztendlich in der Gesellschaft verursacht Ich ergänzte dann schon: „… nein, natürlich nicht „behandeln“, aber helfen, mit der Situation lebenswert und ehrlich umgehen zu lernen. Dein Kind bekommt jetzt eine Symptombehandlung, es geht aber nicht an den Ursprung ran.“

Das ist der Druck durch die Gesellschaft und die Angst. Das darf nicht sein!

Vielen Dank, dass Sie das so deutlich gesagt haben und vielen Dank für das Interview.


Weiteres Expertenwissen gibt es auch in unserer Interview-Rubrik Blattwenden fragt …

Ihr möchtet, dass wir auch in Zukunft wieder Trauertalks führen? Dann fördert unsere Arbeit und werdet Blattwender

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