Zwischenmoment

Es gibt da diesen Moment. Wenn wir einatmen. Und bevor wir ausatmen. Da entsteht eine kleine Lücke. Ein Raum, in dem nichts passiert. Ein kleiner, ewiger Moment.

Diesen Moment erleben wir jeden Tag über 20.000 Mal. Aber wir erleben ihn nicht wirklich. Viele wissen nicht mal, dass es ihn gibt.

So kann es auch mit dem Leben sein.

Wir sind gerade wieder „zwischen den Jahren.“ Eine Zeit, in der wir – wenn wir können – etwas aus der Zeit fallen. In der wir wenig bis nichts müssen. In der wir innehalten und reflektieren. Und uns neu ausrichten auf das, was vor uns liegt. Ein Atempause-Moment im bewussten Stil.

Ich habe das fast ein Jahr lang versucht. Ein Zwischen-Jahr, ein bewusstes Wahrnehmen zwischen dem Ein- und Ausatmen. Ist mir nur bedingt gelungen. So wie wir den Moment zwischen Ein- und Ausatmen nicht jedes Mal nachspüren können. Das Leben fließt lebendig durch uns hindurch und reißt uns mit. Und das ist auch gut so.

Aber ab und zu brauchen wir das. Das bewusste Wahrnehmen von Pausen. Darin bin ich nicht gut. Ich brauche da viel Übung. Aber das hat auch seine Gründe:

Hier gab es lange keinen Blogbeitrag mehr und dieser wird vermutlich auch der letzte dieser Art sein. Seit Ende März habe ich eine Art Sabbathjahr eingelegt. Ich habe den restlichen Urlaub und alle Überstunden genommen, die sich in den letzten Jahren bei Blattwenden angesammelt hatten und habe frei gemacht. Die meisten Blattwender waren darüber informiert und sind diesen Weg mitgegangen. Danke für euer Vertrauen und eure liebevolle Fürsorge in dieser Zeit.

Leider hat sich Blattwenden nicht so entwickelt, wie wir alle gehofft hatten. Aus mehreren Gründen. Als wir den Verein gegründet haben, sind wir noch davon ausgegangen, dass Corona nicht so lange anhält, und unser virtuelles Angebot irgendwann durch Angebote im wahren Leben ergänzt wird. Corona aber blieb.

Auch der Krebs blieb. Unsere Mitarbeiterin Katty, die für Social Media, Grafik und Fundraising zuständig war, bekam Metastasen und fiel aus. Wir versuchten ehrenamtlichen Ersatz zu bekommen, haben das auch für die Grafik geschafft, aber alles andere blieb auf meinem Schreibtisch. Dadurch kam ich nicht mehr zum Texte schreiben. „Nebenbei“ habe ich mein Studium abgeschlossen. Fördergelder liefen aus und neue Anträge für weitere Fördergelder kamen nicht durch. Wir passen mit unserem Thema nicht klar in die Förderrichtlinien der meisten Stiftungen. Nicole musste daraufhin gehen und sich einen neuen Job suchen. Die aktive Arbeit allein weiterführen kann ich nicht. Das war klar vor dem Sabbathjahr. Inwieweit ich was noch kann, wollte ich innerhalb dieses Jahres entscheiden.

Die Antwort, die ich bekam, war ernüchternd: Ich kann weniger, als ich gedacht und mir gewünscht habe. Um beim Bild der Atempause zu bleiben: Ich habe zu wenig Sauerstoff. Im Grunde hyperventiliere ich seit sieben Jahren.

Jetzt komme ich zu dem, was ich schon länger vor mir herschiebe: Nach Markus´ Suizid vor sieben Jahren habe ich begonnen, hier offen über meine Erfahrungen zu schreiben. Auch das hat mich Überwindung gekostet, weil es mich verletzlich und angreifbar gemacht hat. Fremde Menschen lesen etwas über mein Privatleben, über meine tiefsten Empfindungen. Natürlich ist Schreiben auch Therapie, aber mir ging es nach dem Suizid vor allem um den Gerechtigkeitsgedanken.

Das war bei mir schon immer Thema: Aufdecken und mich dafür einsetzten, wenn etwas nicht ausgewogen ist. Und Suizid ist trotz der so hohen Todeszahl immer noch ein Tabuthema. Das hat mich schon vorher genervt, aber als Betroffene noch mehr. Also habe ich meine Situation genutzt. Ich wollte es laut machen. Ich wollte kein Opfer der Situation sein, ich wollte zumindest dies selbst bestimmen. Und das habe ich getan.

Jetzt bin ich aber an einem anderen Punkt. Jetzt bin ich müde.

Die letzten Jahre waren hart. Im Grunde war es nie ruhig mach Markus´ Suizid. Der Überlebenskampf ging immer weiter. Ob wir das Haus behalten können. Ob wir die Schulden loswerden. Ob wir das Haus sanieren können. Dann das Leben auf der Baustelle. Den Fuß gebrochen. Dazwischen Corona. Corona blieb. Neuer Beruf. Fünf Jahre Studium. Mein Vater stirbt, die Katze stirbt, der Kater stirbt. Vereinsgründung. Und wieder winkt der Tod. Katty bekommt Krebs, zwei Mal. Und im letzten Jahr auch Markus´ Mutter, zwei Mal. Kurz steht auch im Raum, dass auch ich Krebs habe, aber das hat sich Gott sei Dank nicht bewahrheitet und ist eine andere Geschichte.

Fazit: Ich habe nicht mehr den Wumms wie nach dem Suizid. Obwohl ich Ideen habe. Und Lust aufs Leben. Aber auf der Waagschale auf der anderen Seite liegen so viele Altlasten, die ich erst nach und nach entrümpeln muss.

Und da ich ein Freund vom gemeinsamen Anpacken bin, habe ich mir eine Therapeutin gesucht und auch gefunden. Eine lange Phase der Diagnostik liegt hinter mir und ich habe jetzt eine Erklärung für meine Müdigkeit: PTBS.    

Eine Posttraumatische Belastungsstörung kennen manche vielleicht von Kriegsopfern oder wenn man eine Naturkatastrophe erlebt hat. Das Auftreten ist sehr individuell und unterschiedlich. Gemeinsam haben alle, dass das Gehirn in Ausnahmesituationen das Erlebte nicht richtig abspeichert. Mit einer PTBS erlebt man den Moment immer wieder.

Bei mir äußert sich das so, dass ich eigentlich jeden Tag unter der Anspannung lebe, dass mein Leben, so wie es jetzt ist, von jetzt auf gleich vorbei sein kann. Und das raubt eine Mange Energie und macht müde. Die Erlebnisse nach Markus´ Suizid haben das leider verschlimmert.

Obwohl ich weiß, dass gerade alles okay ist, fühle ich es nicht. Ich erwarte, dass wieder etwas existenziell Bedrohliches passiert. Dass der Wikinger stirbt oder das Lockenkind. Dass ist mein Zuhause verliere. Dass ich verarmt und verschuldet bin. Ich kann nicht glauben, dass es dieses Mal gut geht. Auch wenn ich mir das noch so sehr wünsche.

Das hat auch nichts mit mehr Anstrengen oder Loslassen oder „du musst nur wollen“ zu tun. Mein Gehirn ist dafür – zumindest aktuell – noch nicht richtig einsortiert. Ich muss erst nach und nach mit der Hilfe meiner Therapeutin die Erlebnisse da einordnen, so sie hingehören. Und das braucht Zeit.

Leider kommen die Folgen einer PTBS oft zeitversetzt. Und damit Unverständnis. Dass es einem nach einem Suizid schlecht geht, ist klar. Aber sieben Jahre später? Manche Menschen erleben sogar erst Jahrzehnte später die Auswirkungen einer PTBS.

Ausatmen.

Dies zu schreiben, fällt mir schwer. Es kostet mich viel Überwindung. Weil ich mich wieder verletzlich mache, mir aber dieses Mal der Wumms fehlt. Als nach Markus´ Suizid im Dorf getratscht wurde, obwohl man mich persönlich nicht kannte – so what? Scheiß auf die Laberköppe, Gaffer und Sensationsgeilen. Ich wollte leben! Will ich jetzt immer noch, aber dieses Mal ist es eine leise Qual. Eine, in der ich nicht viele Rücklagen habe.

Warum ich es trotzdem mache?

Weil ich mich geschämt habe. Weil ich doch tatsächlich gedacht habe: Du kannst jetzt doch keine PTBS haben! Immerhin hast du dir so eine Mühe gegeben! Du hast drüber geredet, geschrieben, es öffentlich gemacht. Du warst in einer Reha, du hast Fürsorge geübt. Und jetzt hast du trotzdem diese Scheiße! Nach dem Motto: Jetzt hast du Abstand gehalten, Maske getragen und die Hände desinfiziert und trotzdem Corona bekommen. Irgendwas musste verkackt haben!

(In Selbstverdammnis war ich schon immer gut. In Selbstfürsorge nicht. Auch eine Folge der PTBS: Weil ich ständig im Alarmmodus bin, kümmere ich mich zuerst ums Überleben der Familie und Freunde und dann im mich selbst. Geht nicht gut so. Weiß ich. Gegensteuern: schwierig. Aber nicht unmöglich.)

PTBS war für mich gleich: Looser. Ich wollte aber ums Verrecken nicht das Opfer sein. Und hinterfragte schließlich diesen Gedanken: Warum sollte ich auch mit einer PTBS ein Opfer sein?

Mist. Schon wieder ein Tabuthema.

Denn ja: Menschen mit einer psychischen Belastung gelten – vor allem nach der NS-Zeit – in unserer Kultur immer noch als schwaches Glied in der Kette. Als Belastung für die Gesellschaft. Eine Zumutung. Und obwohl ich ein links-grün versiffter Gutmensch bin, habe ich das auch gedacht: Jetzt bist du schon wieder schwach. So kannst du dich anderen nicht zumuten.

Tja. Sorry, Leute. So funktioniert das bei mir aber nicht. Da muss ich den Mittelfinger zücken.

Und das mache ich, indem ich das hier thematisiere:

Ich habe eine PTBS. Und ich trage daran keine Schuld. Das ist eine Erkrankung wie ein gebrochenes Bein, mit einem komplizierten Bruch. Das braucht Zeit und Ruhe und Geduld. Und ich bin damit bei Weitem nicht die Einzige. Die Spätfolgen von Corona werden jetzt sichtbar. Noch nie gab es so viele Krankmeldungen wegen psychischen Erkrankungen. Das ist kein Tabuthema, das ist ein Gesellschaftsthema, das in die Mitte gehört, weil es in der Mitte stattfindet.   

Das hat aber auch Auswirklungen auf Blattwenden. Leider hat die Arbeit, wie sie sich in den letzten Jahren entwickelt hat, zu viele Triggerpunkte mit sich gebracht. Der Verwaltungsaufwand ist höher, als wir vorher eingeschätzt haben. Ich habe sehr viel im Büro gesessen und kam nicht mehr zum Schreiben und Kunst machen. Ablage und Co. sind für mich eng verbunden mit dem Verwaltungsaufwand in den Monaten nach Markus´ Suizid. Ich brauche dringend mehr Abstand dazu.

Auch bei den anderen Vereinsmitgliedern hat sich das Leben verändert. Hinzu kommen die Wirtschaftskrise und die Abnahme der Spenden. Meine Stelle kann so nicht weiter finanziert werden. Um Blattwenden online weiter bestehen zu lassen, benötigen wir den Vereinsapparat nicht. Wir haben deshalb als Verein beschlossen, ihn im nächsten Jahr zu schließen.

Da diese Seiten aber so viel Fachwissen und wichtige Hinweise für Hinterbliebene nach Suizid enthalten, wird Blattwenden als Onlineangebot bestehen bleiben. Dann als privates Projekt. Vielleicht werden wir es auch noch ab und zu ehrenamtlich bespielen. Die aktive Arbeit wird aber beendet.

Atempause.

Die alte Luft ist raus. Es ist gesagt. Das Verbrauchte ist ausgeatmet. Und es tut mir leid.

Ich hätte mir gewünscht, dass es anders wäre, aber ich glaube immer noch an den Kreislauf unseres Blattwenden-Prinzips „Grauen – Ruhen – Erden – Grünen.“ Ich glaube, dass mit jedem Ende was Neues beginnt.

Wie das genau aussehen wird, weiß ich noch nicht. Ich kann noch nicht abschätzten, was ich wieder leisten kann. Ich weiß aber, was ich mir wünsche: Wieder Schreiben – aber nicht immer über Suizid und Trauer – , wieder Kunst machen. Aber nicht für lau.

Denn auch das war nicht schön in den letzten Jahren: Wir haben unsere Arbeit spendenbasiert aufgebaut, um Betroffenen schnelle Informationen zu bieten. Leidet haben wir erlebt, dass andere unsere Inhalte teilweise kopiert und dann selbst vermarktet haben. Weil es ein wichtiges soziales Thema ist, das mehr Aufmerksamkeit braucht, können wir das einerseits gut finden. Andererseits ist es schon grenzwertig, wenn besonders die kreativen Elemente von anderen Künstlern neu interpretiert und gegen Geld verkauft werden.

Auch deshalb wird das mein letzter Blogbeitrag dieser Art sein. Ich werde wieder schreiben, aber dann nur für Menschen, die meine Texte auch wirklich lesen möchten und denen der Wert bewusst ist. Ich werde weiter illustrieren und Drucke und Skulpturen entwerfen. Aber wie jeder Handwerker möchte auch ich dafür bezahlt werden.

Einatmen.

Deshalb hole ich tief Luft und beginne neu. Ich werde nach dem Ende von Blattwenden, wahrscheinlich ab März oder April, mit Greenwoman arts & crafts bei Steady neu anfangen. Anschauen, den Newsletter abonnieren und erste Mitgliederpakete bestellen kann man jetzt schon: https://steadyhq.com/greenwoman

Einige Blattwender werden ab März mit mir zu Steady wechseln, wofür ich total dankbar bin. Weil es mir zeigt, dass meine Arbeit hier nicht umsonst war, und weil ich mich dann endlich wieder auf meine Kernkompetenzen konzentrieren kann. Neben einem kleinen, aber feinen Blog wird es auch die Möglichkeit geben, exklusive Illustrationen, Drucke, Skulpturen oder Kurzgeschichten von mir zu bekommen.

Wenn sich genug Mitglieder finden, hätte ich ein Grundeinkommen, das mir helfen würde, in meinem Tempo zu arbeiten und auszuloten, was ich noch auf welche Weise wie kann. Und natürlich auch, hier weiter wohnen und arbeiten zu können.

Bis Ende Februar kann man aber auch noch wie gewohnt bei Blattwenden spenden. Das sichert mein Gehalt bis zum Schluss. Eine Vereinsauflösung ist leider auch wieder mit viel Verwaltungsaufwand verbunden; auch dafür brauche ich Kraft und Zeit.

Blattwenden geht also weiter. Hier als Onlineangebot. Und für mich im Herzen als Autorin, Künstlerin und Bildhauerin. Vielleicht kommt ihr mit und lest mich weiter.

So oder so wünsche ich euch immer eine Perspektive fürs Blattwenden. Egal wie groß und lang das Grauen auch sein mag. Irgendwann kommt das Grünen zurück. Das zeigt uns die Geschichte. Das zeigt uns die Natur. Das zeigt uns Gott.

Seid behütet, eure Nic

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert