„Wir sind beim Trauern alle mit ähnlichen Themen beschäftigt“ – Trauertalk mit Chris Paul, Teil 2

Foto: Amanda Dahms

In unserem ersten Trauertalk haben wir mit Trauer-Koryphäe Chris Paul bereits über Irrtümer und praktische Tipps zum Thema Trauern nach Suizid gesprochen. Heute schauen wir uns ihr Konzept, das „Kaleidoskop des Trauerns“ genauer an und erfahren, wie wir mehr Verständnis für uns und einander gewinnen können, auch wenn wir Trauer vielleicht ganz unterschiedlich erleben:

Frau Paul, wie ist das „Kaleidoskop des Trauerns“ eigentlich entstanden?

Es ist ursprünglich Unterrichtsmaterial. Ich unterrichte viel und versuche, Dinge pädagogisch aufzubereiten, damit Menschen die Inhalte zugänglich finden. Das Kaleidoskop des Trauerns ist ein integratives Modell, in das viele Trauertheorien einfließen: die Traueraufgaben von Worden, die sinnstiftende Idee von Bob Neimeyer, das Duale Prozess-Modell von Stroebe und Schut-Modell vom Oszidieren, das und letztlich auch ein bisschen was von Verena Kast.

Was ist, zu den genannten Trauertheorien, beim Kaleidoskop anders?

Zum einen ist es ein sehr visuelles Modell, das bewusst sehr einfach gehalten ist. Dadurch fällt es sowohl denjenigen, die Trauernde begleiten, als auch denen, die trauern, leicht, sich die einzelnen Bausteine zu merken.

Es ist auch das erste Modell, das nicht zweidimensional ist. Es sagt also nicht, dass man bestimmte Schritte gehen muss, um von hier nach da zu gelangen. Das Kaleidoskop hat sechs Facetten, also sechs bunte Felder. Man kann sich vorstellen, dass die wie Glassteinchen in einem Kaleidoskop sind. Die sechs Felder sind immer da. Keines fällt zwischendurch raus; es kommt auch zwischendurch keines dazu. Aber wie bei einem Kaleidoskop mischen sich die Felder in permanent verschiedene Muster. Da sind dann zeitweise auch mal einzelne Farben gar nicht sichtbar oder aber einzelne Felder dominieren.

Wie hilft dieses Bild vom Kaleidoskop Betroffenen praktisch?

Es ist nicht nur eine erleichternde Idee für viele Trauernde. Auch für viele Trauerbegleitende, weil sie eben nicht erst irgendwelche Felder „abarbeiten“ müssen, um dann auf ein neues Feld zu kommen. Sie können durch dieses Bild vom Kaleidoskop wahrnehmen, wie veränderlich Prozesse sind und wie individuell.

Ich arbeite auch mit Familien damit. Die kriegen dadurch ein Gefühl dafür, dass jedes Familienmitglied auf denselben Themenfeldern unterwegs ist. Aber jedes Familienmitglied hat sein eigenes Kaleidoskop in der Hand und mischt es ständig anders. Das Bild vom Kaleidoskop hilft sehr, dieses Gefühl, dass der andere nicht richtig trauert oder dass man selbst etwas falsch macht, hinter sich zu lassen und die Individualität von Prozessen zu verstehen. Gleichzeitig aber eben auch zu sehen: Wir sind alle mit ähnlichen Themen beschäftigt.

Was beinhalten die einzelnen Themenfelder und Farben?

Es gibt das Feld „Überleben“ – das ist tatsächlich mein Beitrag zur Trauertheorie und kommt aus der Traumatherapie: Es gibt Situationen, wo man nicht ins Fühlen und ins Erinnern gehen kann. Das Feld braucht man ganz besonders am Anfang, aber eigentlich immer wieder auf dem ganzen langen Trauerweg: diese Auszeiten, dieses Innehalten, dieses sich mit etwas anderem beschäftigen dürfen. Darum ist das grellrot. Das ist eine Warnbake.

Dann gibt es das dunkelanthrazitfarbene, fast schwarze Feld der „Wirklichkeit“. Hier geht es darum zu verstehen, was es heißt, dass jemand tot ist – und das dauert richtig lange!

Dem gegenübersteht ein schönes sonnengelbes Feld, das heißt „verbunden bleiben“. Das ist das Geschenk der Trauertheorien der letzten dreißig Jahre, dass man Abstand nimmt vom Ziel, Verstorbene loslassen zu müssen.

Stattdessen hat man herausgefunden, wie wichtig es ist, eine innere positive, lebensstärkende Verbindung zu den Verstorbenen zu finden.

Deshalb ist das so sonnengelb, weil das von Trauernden tatsächlich oft so empfunden wird: hell, wärmend, wie Licht in der Dunkelheit.

Es gibt ein pinkes Feld, das ist das der „Gefühle“. Das ganze Durcheinander der Gefühle gehört da rein: von Wut über Enttäuschung, Ohnmacht, Ängste, aber auch ganz viel Liebe, Dankbarkeit, Sehnsucht, Scham. Da ist richtig viel los.

Dann gibt es noch ein himmelblaues Feld, wo es um das Denken geht. Das habe ich „einordnen“ genannt. Hier geht es darum, neue Bezüge zu mir zu kriegen: Ich ordne mich und die Welt neu ein.

Und dann gibt es noch das grüne Feld, das heißt „sich anpassen“. Hier geht es um all das, was im Außen passiert: Was ist um mich herum? Was hat sich alles verändert an Routinen, Abläufen, Wohnorten, Einkommens- und Gesprächsmöglichkeiten? Das sind Themen, mit denen Menschen sich sowieso auseinandersetzen, ob sie es wollen oder nicht. Das sind wie innere Programme, die ablaufen.

Wie reagieren Ihre Klienten auf dieses Konzept?

Ich erlebe es tatsächlich so, dass die Menschen sich gesehen und verstanden fühlen und endlich ein Bild und eine Sprache haben, auch mit den Farben: „Ich bin auf der gelben Facette …“ Das Kaleidoskop scheint ein gutes Bild für innere Prozesse zu sein.

Und es ist nicht dogmatisch. Das ist es vielleicht auch, was es von vielen anderen Modellen unterscheidet: Ich beschreibe nur, welche Themenfelder Trauernde beschäftigen. An keiner Stelle sage ich, was man wann erledigen muss oder wie man es richtig macht. Das ist, glaube ich, auch eine große Freiheit, die die Menschen erleben.

Herzlichen Dank für den Trauer-Talk!


Erfahrt in Teil 1 unseres Trauertalks mit Chris Paul, unter anderem welche Fehlannahmen es zum Thema Suizidtrauer gibt und wie sie zur Trauer-Expertin wurde.

Weiteres Expertenwissen gibt es auch in unserer Interview-Rubrik Blattwenden fragt …

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