Pausetaste Pandemie

Es ist schon fast eine Tradition. Jedes Jahr eine Panikattacke. Zumindest seit Markus´ Suizid vor fünf Jahren. Dabei hatte ich dieses Jahr gedacht, es geht ohne. Die Welle würde an mir vorbei, der Kelch an mir vorüber gehen.

An anderer Stelle habe ich schon über Trauerwellen geschrieben. Sie überfallen einen oft wie aus dem Nichts. Nicht kontinuierlich wie bei Ebbe und Flut. Sondern wie bei einem just aufbrausenden Sturm, bei dem man – wenn man Glück hat – vorher noch die dunkle Wolkenmasse sehen kann, bevor der Wind die Welle anpeitscht. Doch je länger ein Abschied, auch ein besonderer Tod wie ein Suizid, zurückliegt, desto seltener und sachter werden die Trauerwellen.

Meine letzte Trauerwelle ist so lange her, dass ich mich nicht mehr an sie erinnern kann. Klar gibt es zwischendurch dieses kleine, feine Wellengekräusel um meine Zehen – aber das ist dann sogar fast angenehm. Wie am Strand, ein fast warmes, manchmal erfrischendes Wasser, kaum mit scharfen Sandkornkanten. Eine Erinnerung an früher, mit etwas Wehmut, aber okay.

Vorgestern dann wieder diese Wucht. Plötzlich. Nur kurz vorher die Feststellung: „Huch, da siehts aber dunkel aus!“ und zack! Bin ich mittendrin im Auge des Sturms. Weine ich, bis der Rotz mir die Luftröhre nach unten läuft, ich kaum noch atmen kann, mich auf den Boden werfen, mich ergeben, ducken, zusammenkriechen muss wie ein Embryo, möglichst viel Körperkontakt mit dem Grund, der Wand aufnehmen muss.

Gott sei Dank kenne ich das schon. Gott sei wirklich Dank weiß ich, dass ich davor keine Angst haben muss. Dass es – auch wenn es von außen heftig aussieht und sich auch heftig anfühlt – nicht ewig hält und wieder vorbei geht. Dass es letztendlich eine „normale“ Reaktion ist. Zumindest wenn man die Ursache bedenkt und kennt.

So doof das klingt, aber mir ist eine Panikattacke immer noch lieber als eine traumatische Abspaltung meiner Persönlichkeit. Im Grunde ist eine Panikattacke eine Abwehrreaktion der Seele. Ein Signal dafür, dass das jetzt echt zu viel Emotion oder Belastung oder beides ist.

Aber wie gesagt hatte ich gedacht, dass ich die Tradition dieses Jahr durchbreche, dass es keinen Grund für eine Welle gibt. Was also ist passiert?

Eine Pandemie ist passiert.

Klar ist: Keiner von uns bleibt von ihr unberührt. Wir alle leben mit ihr. Ob wir wollen oder nicht. Sie beherrscht unseren Alltag. Auch wenn die Zahlen jetzt sinken und das Leben zurückkehrt. Denn dass das Leben zurückkehrt, ist längst nicht für alle Alltag.

Vor allem nicht für Menschen, die einen Verlust erlebt haben. Die jetzt in der Pandemie einen geliebten Menschen verloren haben. Durch Covid-19 oder durch einen Suizid oder auch durch einen „normalen“ Tod – denn die Möglichkeiten der Trauer waren begrenzt, vor allem die des Trosts.

Ganz viele Menschen haben sich einsam den Trauerwellen stellen müssen. Und nicht nur sie. Auch die, deren Trauer länger zurückliegt. Weil die Pandemie triggert.

Das hier ist der erste Text im Blog in diesem Jahr. Und das hat Gründe. Zum einen, weil wir einen eigenen Verein gegründet haben und der Verwaltungsaufwand nicht ohne ist. Weil ich von den Spendengeldern für 16 Stunden in der Woche bezahlt werde und nebenbei noch andere Texte schreiben muss, damit mein Gehalt sichergestellt ist.

Weil ich im dritten Studienjahr der Bildhauerei bin und in diesen 16 Stunden wöchentlich auch noch dafür Zeit unterbringen muss. Wegen der Pandemie sind die Studienwochenenden ausgefallen, die ich jetzt alle zwei Wochen nachholen muss bis Ende des Jahres.

Weil wir während der Pandemie auf einer Baustelle gelebt haben (und teilweise immer noch leben) und zwei Mal innerhalb des Hauses umgezogen sind. Weil unsere Tochter erst seit drei Wochen wieder jeden Tag zur Schule gehen darf und davor jeden zweiten Tag zuhause war. Weil sie von Woche zu Woche trauriger und wütender wurde, weil sie kaum noch Kontakt zu ihren Freunden hatte.

Vor allem aber, weil da dieser Trigger ist: Was ist, wenn wieder jemand stirbt, den wir lieben? Ich habe Asthma, der Wikinger Bluthochdruck. Wir gehören beide in Priogruppe 3 für eine Impfung. Wir stehen beide seit über zwei Monaten auf mehreren Wartelisten. Und warten immer noch.

Während wir warten, planen die Großeltern in den Niederlanden ihren 60. Hochzeitstag. Wir können nicht hin. Weil dort über 50 Menschen in einem Raum zusammen feiern. Die meisten geimpft, wir nicht.

Während wir warten, plant das einzige größere Festival in den Niederlanden, seine Türen zu öffnen. Wir haben eigentlich ein Nebengewerbe. Mit dem wir seit zwei Jahren kein Geld verdient haben. Weil es keine Märkte und Festivals gab. Für das es keine Förderungen gibt, weil es nur ein Nebengewerbe ist. Dieses Festival wäre der einzige Markt zum Verkauf unserer Skulpturen in diesem Jahr gewesen. Wir mussten absagen. Weil wir nicht geimpft sind.

Das klingt jetzt arg nach mimimi. Ist es zum Teil auch. Denn: Irgendwann werden wir geimpft. Und es hindert uns ja auch niemand daran, an der Feier oder dem Festival teilzunehmen. Könnte man meinen. Doch wir werden gehindert. Von Markus´ Tod. Auch wenn er bald fünf Jahre zurückliegt.

Weil wir deshalb Schiss haben. Schiss, dass wir jetzt gegen Ende, nachdem wir über eineinhalb Jahre den Arsch zusammengekniffen haben, ungeimpft mit anderen feiern, dann doch noch an Corona erkranken. Und vielleicht einer von uns hops geht.

Die Wahrscheinlichkeit ist vielleicht gering. Aber sie ist da. Vor allem im Kopf. Und das lässt sich nicht so einfach abstellen. Weil wir das verdammt nochmal wissen, wie sich das anfühlt, wenn der Vater, Freund, Papa von jetzt auf gleich weg ist. Wenn die Familie keine mehr ist.

Nee. Mit so einem Gefühl lässt es sich schwer auf einem Festival tanzen.

Scheiße ist das. Weil ich so gerne tanzen würde! Ich würde so gerne meine Freunde wiedersehen. Sie drücken und umarmen und spüren. Das Leben wieder spüren. Besonders jetzt.

Ende Junin und Anfang Juli sind für mich immer so eine Sache. Könnt ihr im Geburtstagsgraus nachlesen. Aber. Dieses Jahr nicht! Dieses Jahr hatte und habe ich so richtig Bock auf Feiern. Das erste Mal seit Markus´ Suizid. Ich würde gerne eine riesige Gartenparty veranstalten. Mit wehenden Tischtüchern und Stoffwimpeln und Blumenkränzen und barfuß tanzen, bis ich sie nicht mehr spüren kann. (Was angesichts Markus´ Querschnittslähmung schon ironisch ist, aber vielleicht auch genau deshalb.)

Ich habe sogar wieder angefangen, meine Kübel ums Haus herum zu bepflanzen. Bisher war das unlogisch, weil ja nie klar war: Bleiben wir wirklich hier? Sanieren wir das Haus? Dann kam die Sanierung, und im Bauschutt Kübel zu bepflanzen, war auch nicht besonders motivierend. Jetzt musste ich sie erst wieder ausgraben. Also die Kübel.

Die Wege auf dem Feld habe ich auch wieder gemäht. Sogar neue. Jetzt haben wir wieder einen wilden Irrgarten auf dem Feld, vorbei an Obstbäumen und Totholzhecken und vor Bienen summenden Disteln.

Ich wünsche mir sogar Pflanzen zum Geburtstag von meinen Freunden. Seit Markus´ Tod habe ich meistens Geld gesammelt, für die Baustelle, eine Küche, für die Bildhauerei. Notwendiges, praktisches eben. Deko brauche ich auch jetzt nicht, aber: Grün!

Früher, als ich in dieses Haus gezogen bin, hatte ich Palmen und Kakteen und Bäume, die bis zur Decke reichten. Heute habe ich noch drei verkümmerte Topfpflanzen auf der Fensterbank, die gerade so die Baustelle überlebt haben. Endlich traue ich mich, wieder Verantwortung zu übernehmen für etwas, das nicht mit Überleben zu tun hat, sondern mit Leben!

Ich bin beim Grünen angekommen und kann es so richtig fühlen, fast greifen, und dann … kommt diese dunkle Wolkenwand.

Kacke aber auch.

Welche Erkenntnis die Welle dieses Mal mitgebracht hat? Ich bin erschöpft. Keine neue Erkenntnis, aber eine Erinnerung, dass es zu viel ist. Ich bin nicht depressiv, kein Stück. Ich bin motiviert. Ich will grünen und tue es auch, von ganz allein. Aber die Stressoren von außen sind größer als die inneren Ressourcen. Nicht wirklich größer, aber hartnäckiger, anhaltender.

Verständlich, wenn man bedenkt, was in diesen fünf Jahren alles passiert ist: Markus hat Suizid begangen. Und uns mit hohen Schulden zurückgelassen. Die Lütte ist in den Kindergarten gekommen. Ich habe den Wikinger kennengelernt. Der Wikinger ist zu uns gezogen. Ich war in der Reha. Ich habe mit dem Studium der Bildhauerei begonnen. Wir haben drei Jahre gebraucht, bis wir das Haus sanieren konnten. Kurz vor der Sanierung breche ich mir den Fuß. Die Lütte wird eingeschult. Nach der Hälfte der Sanierung ziehen wir innerhalb der Baustelle um. Dann kommt Corona. Und alles, was damit zu tun hat. Wir ziehen ein zweites Mal innerhalb des Hauses um. Wir gründen einen eigenen Verein.

Und ich sage euch auch, wieso: Genau deshalb. Weil meine Geschichte kein Einzelfall ist. Weil meine Panikattacke jetzt nur eine von vielen ist. Weil es jetzt gerade ganz viele Menschen – vor allem Mütter, vor allem Alleinerziehende, vor allem Verwitwete und Verwaiste gibt -, die genauso wie ich kaum Kraft haben zum Schreiben. Die stumm jeden Tag einfach weitermachen und warten. Dass es endlich wiederkommt, das Leben.

Und das wird es.

Doch bis dahin, und selbst dann, wird es nicht einfach so weitergehen wie vorher. Dann brauchen wir Ruhe, um nach dem Grauen wieder Kraft zu tanken. Dann brauchen wir Zeit und Raum, und neu zu Erden. Dann brauchen wir Energie zum Grünen. Und genau deshalb gibt es diese Seiten hier. Weil wir Handvoll Blattwender wissen, wie das ist.

Und weil wir das durchbrechen möchten, dieses einsame zähe Blattwenden. Wir möchten kreativ dabei helfen, das Leben wieder sprießen zu lassen. Kreativ nicht unbedingt im Sinne von malen, basteln, Skulpturen bauen. Das auch – aber hauptsächlich kreativ im Sinne von um die Ecke denken, individuell reagieren, jeden Lebensraum, jede Trauer auf seine Art wertschätzen und ausdrücken.    

Sorry.

Jetzt bin ich in den Werbemodus verfallen.

Auch das nicht ohne Grund. Weil ich es einfach so verdammt wichtig finde. Weil jede Trauerwelle es wert ist, geachtet zu werden.

Ich nehme meine auch ernst und nehme mir um meinen Geburtstag herum ein paar Tage frei. Um nur das zu machen, wonach mir ist. Und wenn mich eine Trauerwelle umhauen möchte, ist das okay. Ich habe Zeit. Ich hoffe, ihr auch.

Denn einen Suizid, eine Pandemie, eine außergewöhnliche Belastung steckt man nicht einfach so weg. Wir alle brauchen Genesung. Und Verständnis. Für uns selbst. Und für andere.

Wenn euch jetzt also nicht danach ist, in Menschenmassen zu gehen, ist das verständlich. Und wenn euch danach ist, den Kontakt zu anderen gerade jetzt zu suchen, ist das auch verständlich. Trigger können ganz unterschiedlich sein. Und jeder hat seinen Grund.

Wie auch immer unsere Pausen aussehen: Irgendwann können wir, hoffentlich, tatsächlich wieder miteinander feiern. Und vielleicht geht es nächstes Jahr ja für mich auch ohne diese Panikattacken-Tradition. Denn ihr wisst ja: Die Hoffnung stirbt zuletzt. Also nie. 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert