Die letzte Zeit habe ich mich rar gemacht. In den sozialen Netzwerken, aber auch grundsätzlich. Ich brauche Ruhe. Denn ich fühle mit.
Ich fühle viel, denn ich bin hochsensibel. Das weiß ich, seit ich ein Teenager war, und es war für mich oft eine Plage. Heute betrachte ich es eher als Begabung, aber eine Herausforderung bleibt es – besonders, wenn ich nicht gut genug auf mich geachtet habe. Was nicht immer in meiner Macht liegt.
Manchmal geschieht etwas von außen, das ich nicht unter Kontrolle habe. Eigentlich ständig. Dieses Ding nennt sich Leben.
Ich fühle auch zum ersten Mal, wie es vor fünf Jahren für die anderen gewesen sein muss. Heute ist es fünf Jahre her, dass mein damaliger Mann Markus zum Sterben weggefahren ist. Dass er sein Leben beendet hat. Dieser Jahrestag ist jedes Mal anders. Manchmal auch absurd:
Weil ich in den Jahren davor den Tag eher im Vorbeigehen wahrgenommen hatte, wollte ich ihn letztes Jahr bewusst erleben. Und bin ans Meer gefahren, zu einem Denkmal, an dem die Namen vieler Menschen stehen, die auf See bestattet wurden. Markus´ Name steht (noch) nicht darauf.
Trotzdem fand ich, das sei ein guter Ort. Zum Erinnern, Nachfühlen, vielleicht auch zum Weinen. Klappte nicht so wirklich.
Denn als ich da saß, kamen Touristen vorbei und überlegten (trotz des Hinweisschildes, dass das ein Ort der Stille ist) laut: „Dat is schomma wat, dat hier so viele Leute auffm Meer gestorben sind.“ – „Jau. Und dat in unsere Zeiten! Dat wusste ich nich. Du?“ – „Nä!“
Kurzes Schweigen. „Hier, da is ja noch ne Menge Platz für neue Namen. Ob die dat einplanen, dat da noch mehr Menschen auffm Meer bleiben? Gibbet denn noch so viele Flutopfer?“ – „Die Medien bringen da auch gar nix mehr zu. Dat is echt´n Ding. N´Ding is dat.“
Vereintes Kopfschütteln und Staunen. Dann: „Ach nee. Hier! Kuck ma. Da steht, datet allet Leute sind, die auf See bestattet worden sind.“ – Ach soo! Ja dann …“
Kurzes Sacken lassen. „Dat is ja schon schön sowat. Da machsse noch ne letzte Reise aufm Meer. Abba ob ich so sterben wollte? Ich weiß ja nicht …“ – „Ja, aber ham se schön gemacht, nä?“ – „Jau. Schön isset.“
Ich hab dann echt versucht, nicht zu lachen, aber an Weinen war danach auch nicht mehr zu denken. Stattdessen habe ich mir angesehen, wie die Steine bearbeitet worden sind, auf denen die Namenstafeln angebracht sind. Und habe gemerkt: Einmal Bildhauer, immer Bildhauer. Und: Ohne Markus´ Suizid wäre ich das vermutlich nie geworden. Bildhauer.
Dieses Jahr fällt der Todestag in den zweiten Sommer einer Pandemie. Und eine Flut. Eine echte. Nicht hier. Aber sehr real. Sie ist eine der Gründe, warum ich schweige. Weil es mich betroffen macht. Und nicht nur das: Ich spüre den Schmerz.
Das klingt vielleicht vermessen, weil ich vor fünf Jahren „nur“ meinen Mann durch Suizid verloren habe. Aber ich habe damals auch fast unser Zuhause verloren. Ich weiß, wie sich das anfühlt, wenn dein Leben, das du bisher kanntest, von jetzt auf gleich weg ist. Es ist das nackte Grauen.
Ich vermute aber, dass es in den Flutgebieten noch heftiger ist. Weil wir jetzt über ein Jahr Pandemie hinter uns haben. Weil ich niemanden kenne, dem es richtig gut geht. Weil fast alle aus dem letzten Loch pfeifen. Vor allem Familien mit Kindern. Weil ich sie hier sehe, wie sie Urlaub machen. Da lacht kaum jemand. Da sind alle einfach nur müde, erschöpft und haben diese weitere Anspannung in sich, wie es wohl weitergeht im Herbst.
Und mitten in dieser Erschöpfung wird dir dein Zuhause genommen. Vielleicht sogar ein geliebter Mensch. Vielleicht wird er oder sie noch vermisst. Auch das kann ich mitfühlen, weil diese Unsicherheit bei mir die erste Zeit bestimmt hat. „Nur“ einen Tag, bis man Markus´ Körper gefunden hatte. Es war die Hölle. Und dieses Wort benutzte ich mit Bedacht.
Dir wird aber nicht nur dein Zuhause genommen und geliebte Menschen, in manchen Regionen ist dein ganzer Ort verschwunden. Es gibt keine Straßen, kein Wasser, kein Strom, Seuchengefahr und du hast nichts mehr zum Anziehen. Vielleicht sogar keinen Job mehr, weil es dein Geschäft nicht mehr gibt, in dem du gearbeitet hast.
Das macht mich sprachlos.
Nicht weil ich es nicht für möglich gehalten hätte. Ich weiß, dass unser Leben fragil ist. Und es gibt – ohne Scheiß – keinen Tag, an dem ich nicht morgens aufwache und dankbar die offen gelegten und abgeschliffenen Deckenbalken über mir betrachte und realisiere: Ich lebe noch. Ich lebe noch in meinem Haus. Ich lebe in meinem Haus und es ist saniert und es ist gleichbleibend warm und nicht mehr klamm.
Und trotzdem, und vielleicht auch deshalb, habe ich auch fünf Jahre danach immer noch eine Hab-Acht-Haltung, wie lange ich das wohl genießen darf. Wann wohl die nächste Katastrophe um die Ecke kommt. Weil das in meinem Leben – leider – mein Erfahrungswert ist. Es wird weitere Jahre dauern, bis das Vertrauen ins Leben sich immer mehr festigt.
Aufzugeben war und ich für mich nie eine Option. Pausen dagegen schon. Denn ohne Kraft zu tanken, geht es nicht vorwärts. Wie aber wird das für die Flutopfer sein? Wann dürfen sie eine Pause machen? Wie lange wird es dauern, bis sie morgens dankbar aufwachen und sich sicher fühlen?
Vor fünf Jahren im Herbst bekam ich einige Briefe und Mails von Menschen, die sich bei mir entschuldigt haben, weil sie erst da den Mut aufgebracht hatten, mir zu schreiben nach Markus´ Suizid. Weil auch sie sprachlos waren über das, was mit ihm passiert ist und dadurch auch uns.
Ich hatte Verständnis dafür. Aber gleichzeitig auch nicht den Kopf dafür. Weil ich zu diesem Zeitpunkt immer noch mit Aufräumen beschäftigt war. Und deshalb eigentlich froh war, dass sich Menschen auch mehrere Wochen danach noch bei mir meldeten. Denn: Das Geschehen des Grauens ist das eine. Das Aushalten und Aufräumen eine ganz andere. Trauern braucht Zeit. Leben braucht Zeit. Und das Dazwischen noch viel mehr.
Ich hoffe und bete, dass wir mit den nächsten Pandemiewellen im Herbst die Flutopfer nicht vergessen. Denn sie werden einen langen Atem brauchen. Einen noch längeren als ich. Und mir ist oft die Puste ausgegangen.
Ich weiß noch nicht, ob oder was wir bei unserem Verein Blattwenden tun können. Aber genau darüber denke ich in diesen Tagen nach, in der Zeit von Markus´ Suizid: Wie man auch aus dieser Scheiße wieder was Gutes machen kann. Und zwar langfristig.
Bei Blattwenden haben wir diesen Wachstumsprozess nach einer Katastrophe in vier Bereiche eingeteilt, die aber fließend ineinander übergehen und sich auch teils wiederholen. Aber grundsätzlich ist es beim Trauern wie in der Natur: Erst kommt das Grauen. Das unfassbar viel Kraft verbraucht. Das meiste macht man im Funktionsmodus. Da bleibt nicht viel zum Fühlen. Man macht einfach. Man überlebt. Teilweise sehr, sehr lange.
Irgendwann geht nix mehr und man muss ruhen. Manche, dazu gehöre auch ich, werden von ihrem Körper dazu gezwungen. Das Ruhen ist kein Urlaub. Es ist anstrengend. Weil man so lange Zeit vorher so über alle Maßen über seine Kräfte gehen musste. Und genau das sehe ich jetzt bei vielen Menschen und Familien nach eineinhalb Jahren Pandemie.
Wenn man genug Ruhe hatte – und das ist eine Voraussetzung! – erdet man sich langsam wieder. Es kommen zaghafte Ideen, Überlegungen, Pläne. Dieses Erden passiert oft auch schon mitten im Grauen (sofern man darin kurze Zeiten zum Ruhen hatte). Es ist eigentlich ein Prozess, der immer wieder aufblitzt zwischendurch; wir schlagen oft auch Wurzeln, ohne dass wir es bemerken.
Und dann, irgendwann, wächst da wieder was. Bei mir gab es relativ schnell wieder neue Triebe – aber nicht jeder setzt sich durch. Manche verkümmern, manche sterben ab, andere setzen sich durch und werden dann von einem Sturm (wie einer Pandemie) wieder umgehauen.
Denn so ist das Grünen, wenn es wild wächst: Es lässt sich nicht planen.
Klar können wir versuchen, unser Leben wie eine Hecke in quadratisch praktisch gut zu stutzen. Bei vielen Menschen klappt das auch viele Jahre. Aber: Es ist nicht die Regel.
In unserer industriellen Zeit, in einer Zeit, in den Effizienz und Kapital uns und unsere Eltern geprägt haben, glauben wir, dass Leben so sein muss. Dass wir ein Anrecht auf Wohlstand haben, wenn wir nur hart genug arbeiten und uns an die Regeln halten.
Ein Fluss hält sich bei zu viel Regen und zu trockenen Böden aber nicht mehr an sein künstlich geschaffenes Flussbett. Gutes Leben lässt sich nicht einfordern. So gerne wir uns das auch wünschen würden.
Das kann Angst machen. Zu Recht.
Aber: Angst muss nichts Schlimmes sein. Angst kann uns warnen. Und uns helfen, etwas anders zu machen.
Als Markus vor fünf Jahren verschwand, um zu sterben, war mein Leben von jetzt auf gleich anders. Es wurde nie wieder wie vorher. Aber es wurde gut. Sogar schön. Trotz Pandemie.
Und das aus zwei Gründen. Erstens: Weil Gott immer geblieben ist. Weil der Schöpfer dieses Chaos namens Leben und uns darin nicht allein lässt. Weil er immer dieselbe bleibt. Eine Konstante, die sich nicht umwerfen lässt, während Generationen von Menschen geboren werden und wieder sterben. Coole Sache, so ein Wesen als Freund zu haben.
Zweitens: Wegen euch. Wegen anderer Menschen. Weil es wie jetzt in den Flutgebieten Menschen gab und gibt, die beistehen. Jeder auf seine Art. Die einen geben ihre Zeit und packen mit an. Die anderen geben ihr Geld und finanzieren mit. Wieder andere melden sich Wochen später und sind dann da, wenn die anderen nicht mehr können. Dieses Mitgefühl, diese Liebe zueinander macht es aus, wie wir ein Grauen überleben.
Wären da nicht Freunde gewesen, die mir finanziell im ersten Trauerjahr den Arsch gerettet hätten – ich wäre längst nicht mehr hier. Wären da nicht Freunde gewesen, die meine Zerbrochenheit ausgehalten hätten, ich wäre heute nicht so gut zusammengeflickt. Wären da nicht Menschen gewesen, die auch Monate oder Jahre danach nicht nachfragen würden, was mir hilft, ich hätte nicht den Mut gefunden, nochmal einen neuen Beruf zu ergreifen. Wären da nicht Menschen, die Blattwenden – zum Teil seit Jahren! – monatlich fördern, hätte ich weder einen Arbeitsplatz, noch könnte ich daran arbeiten, anderen Suizidhinterbliebenen durch meine Texte und Kunst Mut zu machen.
Wir können immer etwas anders machen. Wir können uns immer, jederzeit neu dazu entscheiden zu lieben. Uns selbst. Und einander.
Und ich hoffe, auch wieder ohne Scheiß, dass wir das weiter hinkriegen. Dass wir uns – trotz aller Unterschiede und verschiedener Meinungen – zusammenraufen und immer wieder aufstehen, und uns gegenseitig zeigen, dass sich das lohnt, das Chaos namens Leben. Weil es da immer eins gibt: Liebe.
Meine habt ihr jedenfalls. Denn wie gesagt: I feel you. Trotz oder gerade wegen Markus´ Todestag.