Vom Eismeer ins IJsselmeer

Da sind die Wikinger mal wieder in See gestochen und haben doch tatsächlich vergessen, ihr Proviant aufzustocken. Vom Feuerholz haben sie auch zu wenig und überhaupt haben sie sich kaum Gedanken darüber gemacht, was wohl passieren könnte, wenn sie spontan ins Eismeer fahren. Blöd, wenn das Schiff dann über Nacht von einem Eissturm gepackt wird und in den Eisschollen festfriert. Dann geht gar nichts mehr. Bis aufs nackte Überleben.
So beginnt ein Hörspiel, das ich letztens mit meiner Tochter im Auto gehört habe. Die Geschichte kam mir bekannt vor. Denn wir haben das erlebt. Vor fast zwei Jahren hat mein Mann Suizid begangen. Wie bei den meisten Suiziden gab es kaum Vorwarnungen. Nur rückblickend fallen einem Aussagen, Verhaltensweisen und andere Situationen ein, die es haben erahnen lassen. Trotzdem bleibt es bei den meisten Hinterbliebenen ein Schock. Eine Eiswelle, die alles bisherige Leben von jetzt auf gleich einfrieren lässt.

Alle Mann festhalten!

Auf die Frage, was sie machen würde, wenn sie mit einem Schiff in einen Sturm geraten würde, antwortete meine Lütte ganz selbstverständlich: „Na, dann halte ich mich fest.“ Und genau das habe ich gemacht. Nach dem Tod meines Mannes war alles ein absolutes Chaos. Ich verlor mit ihm nicht nur meinen Ehemann und den Vater meiner Tochter, sondern auch meinen Arbeitskollegen und besten Freund. Letzteres auch deshalb, weil ich erst nach seinem Tod erfahren habe, dass er versucht hat, vieles vor uns zu verstecken: etwa seinen tatsächlichen gesundheitlichen Zustand und hohe Schulden. Erst im Nachhinein einen Dschungel aus Lügen zu entdecken – da steht die Welt im wahrsten Sinne Kopf.
Viele rieten mir, möglichst schnell alles zu verkaufen und woanders neu anzufangen. Manche raten mir das heute noch. Obwohl ich sie nicht darum gebeten habe. In einem Sturm sollte man aber eines nie tun: Spontan von Bord springen. Zumindest nicht, solange das Schiff noch fahrtüchtig ist. In Krisensituationen sollte man keine hektischen Entscheidungen treffen, sondern sich umsehen und fragen: Wo kann ich mich festhalten? Wer oder was gibt mir Halt?
Bei mir waren und sind das Menschen, denen ich vertraue. Ich delegierte Aufgaben und bat um Hilfe. Wenn man in einem Sturm nichts findet, woran man sich festhalten kann, was tut man dann? Um Hilfe schreien! Das ist immerhin eine Notsituation und wir wollen doch überleben! Wenn wir erstarren und nichts tun, sterben wir. Da gibt es keinen falschen Stolz.
Nicht immer habe ich Hilfe bekommen. Oder mir wurde Hilfe angeboten, die mir keinen festen Halt gab. Aber ich habe immer weitergesucht: Nach Personen und Erkenntnissen, die mir weiterhalfen. Nicht selten passiert es, dass das Stück Planke, woran ich mich bis jetzt geklammert habe, sich langsam löst, und ich mich vom Orkan weiter über Deck schleudern lassen muss, bis ich etwas anderes finde, woran ich mich festhalten kann. Doch das ist immer noch besser, als sich gar nicht festzuhalten oder sich an Menschen oder Überzeugungen zu klammern, die mir langfristig schaden – herausstehende Nägel etwa oder ein Tau, das mich so sehr an den Mast fesselt, bis mir die Haut einschneidet oder sogar die Luft wegbleibt.

Alle Mann in die Rettungswesten!

„Außerdem hat doch jedes Schiff einen Rettungsring!“, fügte die Lütte hinzu. Leider kommen Stürme aber nicht nach Plan, sodass man in Ruhe den Rettungsring an Bord suchen kann. Ein Sturm bricht abrupt über die Menschen herein und man braucht viel Konzentration, um trotzdem den Durchblick zu behalten und überhaupt einen Rettungsring oder eine Rettungsweste zu finden. Doch wie funktioniert dieses Teil dann überhaupt? Immerhin haben die meisten Menschen so etwas noch nie gebraucht.
Für mich ist dieser Rettungsring Gott. Manche müssen erst den Hinweisschildern folgen, um ihn zu finden. Ich hatte die Rettungswesten in meinem Leben vorher schon oft benutzen müssen, deshalb habe ich sie schnell gefunden und uns alle – meine Lütte, mich, aber auch meinen verstorbenen Mann Markus – Gott anvertraut. Es kann aber sein, dass dieser Lebenssturm so bedrohlich ist, dass man die Nase voll hat von diesem Rettungsring, der da nur in der Ecke hängt und nichts tut. Dass man ihn einfach nicht mehr erreichen kann. Dass er zu weit weg scheint. Dass man zu viel Angst hat, die mühsam gefundene sichere Ecke im Schiff zu verlassen, nur um sich auf ein unsicheres Stück Stoff zu verlassen, das auch noch nur mit Luft gefüllt ist!
Ich kann das gut verstehen. Mir ging und geht es auch oft so. Ich trage die Weste die meiste Zeit – denn mein Eissturm ist auch nach fast zwei Jahren immer noch nicht vorbei – aber ich traue ihr nicht immer. Sie wirkt so dünn und so faserig und ich trage sie schon so lange. Was ist, wenn das Schiff doch noch untergeht? Wird sie noch funktionieren? Was ist, wenn sie inzwischen Löcher hat?
Zweifel sind absolut erlaubt an Bord. In einem Sturm haben alle Angst. Die Rettungsweste oder den Rettungsring zu tragen, ist aber besser als nackt zu sein, wenn die Titanic doch noch den Eisberg rammt.

Alle Mann Ausschau halten!

Manche Floskeln stimmen. Zum Beispiel: „Alles geht vorüber.“ Kein Sturm hält ewig. Doch einige Stürme dauern lange. Oder mehrere Stürme wechseln einander so schnell ab, dass man kaum eine Chance hat, das Schiff wieder manövrierfähig zu machen oder die Vorräte aufzufüllen. Bei der eingangs genannten Geschichte lässt sich Wickie, das Kind des Wikingerhäuptlings, wie immer eine Lösung einfallen. Doch nicht jedes Leben ist wie ein Kinderhörspiel.
Bei uns ist nach knapp zwei Jahren etwas Ruhe eingekehrt. Die existenzielle Bedrohung aber ist geblieben. Noch immer weiß ich nicht, wie es mit mir beruflich weitergeht. Noch immer weiß ich nicht, ob wir es schaffen, unser Landhaus, das mir und meiner Tochter Halt gibt, zu behalten. Es muss dringend renoviert werden, um die laufenden Kosten zu senken, aber solange ich noch krank bin und versuche, mich von diesem Lebenssturm zu erholen, bekomme ich keinen Kredit, um mein Haus Schrägstrich Schiff zu reparieren. Wir hängen also immer noch fest im Eismeer und warten aufs Tauwetter. Und hoffen, dass unser Schiff dann nicht durch Lecks, die jetzt noch von Eisschichten bedeckt sind, doch noch untergeht.
Ähnlich wie die Wikinger verfeuere ich inzwischen die Schiffsplanken. Ich gehe an meine Ressourcen. Auf Dauer geht das nicht gut, denn ohne Planken gibt es irgendwann kein Boot mehr. Also versuche ich immer wieder, mir kleine Ruheinseln im Sturm zu schaffen. Etwas zu tun, was mir gut tut. Rechtzeitig Pausen einzubauen. Keine Panik zu bekommen, wenn der Wind wieder aufbraust. Und ich versuche mich auf den Heimathafen zu konzentrieren, auf mein Ziel, das ich erreichen möchte: Endlich unser Haus zu sanieren und beruflich wieder Fuß zu fassen.

Land in Sicht!

In den Niederlanden gibt es eine Straße, zu deren beiden Seiten man nur Wasser sieht. Auf der einen Seite Wattenmeer, auf der anderen das IJsselmeer. Diese Straße führt kilometerlang am Deich entlang durchs Wasser. Man könnte meinen, dass man nie wieder ans Festland kommt, dass man umzingelt ist vom Meer. Doch dem ist nicht so. Man kann das Land nur noch nicht sehen. Dieses Bild vom Ijsselmeer hilft mir in meinem persönlichen Eismeer durchzuhalten. Weil ich weiß, dass es Land da draußen gibt. Dass es irgendwann weitergeht. Ohne dass ich mein ganzes Schiff verfeuern muss. Bis dahin halte ich mich gut fest. Und im schlimmsten Fall: Schwimme ich eben. Ich habe ja immer noch meine alte Rettungsweste. Fast täglich frage ich sie leise: „Bist du noch da? Bleibst du bei mir?“

Dieser Text ist in der Zeitschrift „Miteinander unterwegs“, Ausgabe 4/2018 erschienen. 

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