Über fünf Jahre ist Markus jetzt tot und so langsam weiß ich nicht mehr, was ich darüber noch schreiben soll. Ja, es gibt noch Einiges zu erzählen. Aber ist das noch relevant? Wen interessiert das noch? Mich? Euch?
Mein Leben ist ein ganz Anderes geworden seit Markus´ Suizid. Nicht nur durch die Art des Todes oder den Umstand, dass er uns mit einem Haufen Schulden zurückgelassen hat. Auch durch das, was danach kam.
Durch den Wikinger, der plötzlich Teil unseres Lebens wurde. Durch den Überlebenskampf, die Schulden zu bewältigen und das Haus zu behalten. Es schließlich doch zu sanieren. Einen neuen Beruf zu erlernen. Das Kind im Kiga einzugewöhnen und einzuschulen. Meinen Vater zu beerdigen.
Und dann noch die Pandemie. Natürlich. Die unser aller Leben durcheinander geschüttelt hat. Die wir hier mitten in einer Baustelle erlebt haben. Wohnen und Schlafen und Arbeiten und Beschulen in zwei Räumen, während nebenan die Bauarbeiter gehämmert haben. Ängste und Trigger, dass wieder jemand stirbt, den wir lieben.
Niemand ist gestorben. Bis jetzt. Außer die Katze. Und ganz, ganz viele Pläne. Ständig mussten wir neu denken, neu entwerfen, umschmeißen, reagieren. Etwas, das in der Pandemie viele lernen mussten. Etwas, das ich seit Markus´ Suizid ständig tun musste. Etwas, das ich schon vorher getan habe, weil ein Leben mit Mann im Rollstuhl alltägliches Umdenken bei Hindernissen baulicher, gesellschaftlicher und auch sozialer Art bedeutete.
Ich bin Profi im Umdenken. Ob gewollt oder nicht. Ich kann das. Aber ich wünschte, es wäre nicht immer so. Ich wünschte, das Leben wäre manchmal eher wie am Fließband.
Vermutlich ist es auch genau das: ein kulturelles Übrigbleibsel aus der Zeit der Industrialisierung. Wir denken, das Leben wäre so: Dass wir jeden Tag dasselbe tun, zur selben Zeit, mit demselben Ziel, denselben Menschen. Und das war auch lange Zeit so. In der Malocher-Zeit. Weshalb das Rentenalter sich für manche Menschen wie ein vorschneller Tod anfühlt. Weil ihr jahrzehntelanges Leben von jetzt auf gleich vorbei ist, ohne dass sie vorher üben konnten, wie Abschiednehmen eigentlich geht.
Mein Leben dagegen ist eine einzige Aneinanderreihung von Abschieden. Selten ist etwas lange geblieben. Außer Freunde. Das beste Geschenk sowieso. Menschen, die ich seit Jahren oder gar Jahrzehnten kenne. Die mit mir altern und Abschied nehmen von anderen Menschen, Lebensentwürfen, Lebensträumen. Und mit den Abschieden auch Neues begrüßen: Neue Lebensträume, neue Ziele, neue Menschen. Die mit mir Blattwenden.
Es hat also nicht nur Nachteile, ständig Blätter zu wenden. Dadurch weiß ich, wie es geht. Und dass es eben nicht „geht.“ Sondern dass es wie in der Natur einfach passiert. Im eigenen Tempo.
Manche Blätter fallen früh, weil der Baum den Sommer über zu wenig Regen bekommen hat. Manche fallen spät, weil der Baum sich länger vor Frost schützen möchte. Manche fallen gar nicht und verharren zusammengeschrumpelt den Winter über am Ast, bis neue Knospen kommen. Manche fallen schon kurz nach dem Austreiben, in einem Frühlingssturm, oder weil Rehe sie abknabbern.
Unser Leben ist nicht wie ein Fließband. Unser Leben ist wie die Natur. Auf manches können wir uns verlassen, wie etwa auf die Jahreszeiten, aber auch die sind nicht jedes Jahr gleich und verändern sich über die Jahrzehnte. Auf vieles haben wir keinen Einfluss und müssen darauf reagieren: auf Stürme, Dürren, Überschwemmungen.
Trotzdem sind wir dem nicht hoffnungslos ausgeliefert. Denn in den meisten Fällen können wir entscheiden, wie wir darauf reagieren. Bei jedem Blattwenden können wir überlegen, wie wir was tun. Aber: das kostet auch Energie.
Deshalb ist es umso wichtiger, gut auf uns zu achten. Uns regelmäßig auszuruhen und zu erden. Damit wir neu Grünen können. Daraus ist unser Blattwenden-Prinzip entstanden. Das so ganz anders ist als Fließbandarbeit.
So ist auch meine tägliche Realität bei Blattwenden. Ich plane mein Studium ein, Posts, Texte für den Blog, Meetings mit meinen Kollegen, Vereinstreffen, Vorstandstreffen, Renovierungen, Skulpturen, Skizzen. Und ständig grätscht mir das Leben dazwischen. Das Kind wird krank, im Team haben wir unterschiedliche Ferien, die Studienzeiten werden verschoben, es kommen Anfragen rein, die nicht absehbar waren, und so weiter.
Kennt ihr, oder?
Unser Leben ist ein ständiges Blattwenden. Schon ohne den Tod von geliebten Menschen. Es ist ein dauerhaftes Sterben und neu geboren werden von Lebensentwürfen. Und meistens balancieren wir das irgendwie aus. Was aber, wenn eine Pandemie uns wochenlang oder monatelang dazu zwingt, über unsere Grenzen zu gehen? Was, wenn dann wirklich noch ein geliebter Mensch stirbt? Vielleicht sogar an Suizid? Was, wenn dann kaum noch jemand da ist, weil alle so am Limit sind? Wenn von allen immer weniger da ist?
Mitten hinein in diese Realität – denn so sehe ich das momentan – fange ich nachts an zu träumen. Von Markus. Das ist nicht besonders schlimm und es ist auch normal.
Träume von Verstorbenen gehören zum Trauerprozess dazu. Aber nach fünf Jahren? Sollte es da nicht langsam mal gut sein? Frage ich genervt und weiß auf der anderen Seite doch ganz genau: Trauer hat kein Verfallsdatum.
Dennoch bleiben es merkwürdige Träume. Es sind neue Träume. Träume von meinem Leben jetzt. In einem sanierten, warmen Haus. Von Blattwenden. Von der Bildhauerei. Von meinem Leben mit dem Wikinger und unserem Kind. Mein heutiges Leben, in das Markus plötzlich zurückkehrt, sich selbstverständlich darin bewegt, nach dem Motto: „Hier bin ich wieder“ und so tut, als wäre das völlig normal.
Ich wache auf und ärgere mich. Jedes Mal. Weil ich denke: Was willst du jetzt wieder hier, nachdem ich uns fünf Jahre lang aus der Scheiße gekämpft habe und jetzt endlich so eine Art Alltag einkehrt oder zumindest in Sicht ist? Dann kommst du zurück? Lässt mich mit deinen Schulden, deinem Müll und deinen Geheimnissen zurück, lässt mich den ganzen Kack aufräumen und setzt dich dann ins gemachte Nest? Nee!
Und genau das ist der Punkt. Ich sage im Traum nicht nein zu ihm. Ich lasse ihn grummelnd wieder einziehen. Und verstehe plötzlich in der Wachwelt: Ich habe die Beziehung nie beendet. Fünf Jahre nach seinem Tod bin ich immer noch mit ihm verheiratet. Von wegen: Bis dass der Tod euch scheidet.
Im Trauerprozess kommt man irgendwann an einem Punkt, an dem man den Verstorbenen ziehen lässt und ihm einen neuen Platz in seinem Leben einräumt.
Das habe ich etwa eineinhalb Jahre nach Markus´ Tod getan. Als meinen verstorbenen besten Freund und den verstorbenen Vater meines Kindes.
Ein Suizid ist aber auch eine Art Verlassen werden. Und wenn jemand eine Liebesbeziehung beendet, bleibt man danach vielleicht noch mit der Person in Kontakt, eine Freundschaft ist aber trotz aller Bemühungen oft nicht mehr möglich.
Letzte Woche hätte Markus Geburtstag gehabt. Und ich habe ihn vergessen. Zum ersten Mal. Erst durch eine Nachricht eines Freundes wurde ich daran erinnert. Was ein gutes Zeichen ist, denn ich bin eine erfolgreiche Geburtstagsvergesserin, sehr zum Verdruss meiner Freunde. Markus´ Geburtstag und Tod sind für mich also in gewisser Hinsicht „normal“ geworden.
Mein Unterbewusstsein aber erinnert mich in den Träumen daran, dass ich da noch etwas anderes vergessen habe. Etwas, das man irgendwann innerlich tun sollte, wenn man von einem geliebten Menschen verlassen wird: ihn nicht nur gehen lassen, sondern ihn auch aktiv verlassen. Deutlich sagen, dass man selbst diese Beziehung, die einmal war, auch nicht mehr möchte. Und genau so ist es:
Ich möchte nicht mehr Markus´ Frau sein. Ich bin es schon sehr lange nicht mehr.
Das bedeutet nicht, dass ich mir wünsche, dass er tot ist. Ich wünsche mir auch heute noch, er hätte diesen Weg nicht gewählt. Auch wenn ich mich mit seinem Suizid versöhnt habe und seine Gründe nachvollziehen kann, wünschte ich mir, er hätte es nicht getan und er würde heute noch leben. Mit ihm leben würde ich aber nicht mehr. Und das hat nichts mit dem Rollstuhl zu tun, sondern mit dem Vertrauensbruch.
Erst nach seinem Tod zu erfahren, dass er uns wegen einer Kauf- und Spielsucht finanziell in den Ruin getrieben hat, war und bleibt ein Trennungsgrund. Den ich aber nie kommuniziert habe. Bis heute. Nach fünf Jahren Blattwenden in jeder Hinsicht habe ich endlich entschieden: Mit dir ist der Weg hier zu Ende.
Das hätte übrigens beinahe das Ende von Blattwenden als Verein bedeutet, denn ich hatte schon längere Zeit ein Bauchgrummeln, wenn ich daran dachte, weiter als wütende Witwe durchs Leben zu gehen. Das bin ich zwar, ja, aber das ist nur ein kleiner Teil von mir. Heute bin ich in erster Linie Bildhauerin und Autorin, die sich gerne für andere Suizid-Hinterbliebene einsetzen und mit ihrer Kunst und ihren Texten zeigen möchte, wie Blattwenden geht – oder auch nicht. Aber genau das kann ich bei Blattwenden ja auch tun. Nur nicht mehr als Markus´ Frau.
Wenn ich überhaupt jemandes Frau bin, dann die des Wikingers, oder er mein Mann. Das sogar mehr, als das mit Markus jemals der Fall war. Weil der Wikinger und ich absolut offen und ehrlich zueinander sind. Das ist nicht immer leicht, aber es ist eine Vertrauensbasis, die nichts erschüttern kann. Und dazu sage ich gerne ja. Und nicht nur dazu.
Auch wenn ich das offiziell leider nicht kann, weil ich dann meine Witwenrente und damit die finanzielle Basis für unser Haus und auch für Blattwenden verlieren würde. Alles hat seinen Preis oder: Alles hat seine Vor- und Nachteile, wie der Wikinger immer sagt.
Diesen Preis zahle ich bewusst, weil ich gerne einen Beitrag dazu leisten möchte, dass Menschen eben nicht immer weniger werden in Zeiten wie diesen. Dass wir es schaffen, uns kleine Inseln der Nächstenliebe zu bauen und zu schenken. Deshalb gibt es Blattwenden und deshalb behalte ich diesen blöden Nachnamen, mit dem ich nicht ganz im reinen bin.
Aber wer weiß? Vielleicht entsteht durch den bewussten Abschied von Markus ja auch wieder etwas Neues? Denn das Blattwenden an sich hört nie auf.