Willkommen, nackte Angst

Am Montag war ich einkaufen. Kurz. Die Lütte Locke hatte Lust auf Stracciatellajoghurt und mir fehlten Walnüsse für mein Müsli. Bisher war Corona hier auf dem ostfriesischen Land noch kein wirkliches Thema. Zumindest nicht in den Supermärkten. Die Mär vom Klopapierkampf kannten wir nur aus den Medien. Bis jetzt.

Jetzt waren die Parkplätze voll. Familien nutzten die plötzlich freie Zeit wegen der Schulschließung für Einkäufe. In der Backabteilung standen zwei Frauen, eine davon völlig aufgelöst, mit Tränen in den Augen. Sie erzählte jedem, der es hören wollte oder auch nicht, dass sie, verdammt nochmal, doch nur für ihre Tochter einen Geburtstagskuchen backen wollte. Wenn schon die Party ausfiel, sollte sie doch wenigstens das haben können – aber das war schon der fünfte Supermarkt und nirgendwo gab es noch Mehl.

Ich war dankbar für meine Walnüsse und ging zur Kasse. Dort versuchten die Leute, den Mindestabstand zu halten. Bis auf einige Urlauber. Die sich – ebenfalls lautstark – darüber aufregten, was die Leute denn für eine Panik schieben würden; das ginge doch alles wieder vorbei wie auch die Vogelgrippe und die Schweinegrippe und überhaupt jede Grippe. Und kamen mit jedem Wort näher rangerückt, um Bestätigung ihrer Aussagen bemüht.

Die Kassiererin sagte nichts. Sie sah mich nur kurz an und nickte dankbar. Weil ich Handschuhe trug, als sie mir das Wechselgeld gab. Und nicht lautstark wurde. Obwohl es in mir brodelte.

Ich kann so gar nicht mit Ungerechtigkeit. Mit Uneinsichtigkeit. Mit Egoismus. Aber ich verstehe auch. Ich verstehe, dass der Mensch seine Zeit braucht, bis er Informationen verarbeitet hat. Leider. Und manche brauchen dafür länger. Weil auch sie ihre Geschichte haben.

Als ich rausging, kam mir ein älteres Paar entgegen. Den Einkaufswagen voll mit Haushaltsrollen. Klopapier war ja aus. Voll mit Konservendosen und Einmachgläsern. Mit einem entschlossenen Gesichtsausdruck, als würden sie in den Krieg ziehen. Die Ellenbogen schon auf Brusthöhe ausgefahren. Aber dahinter, in ihren Augen, sah ich etwas Erstaunliches. Ich sah mich selbst. Ich sah die nackte Angst.


Wir reagieren unterschiedlich auf Angst. Je nachdem, wie wir aufgewachsen sind, was wir gelernt oder auch genetisch vererbt bekommen haben. Wie das Horten zum Beispiel. Ein Überbleibsel aus der Kriegszeit. Als Horten sinnvoll war. Weil Lebensmittel wirklich knapp waren. Weil gehungert wurde. Im Osten Deutschlands ist das sogar noch gar nicht so lange her, der Mangel. Und Mangel prägt.

Diese Mechanismen greifen jetzt wieder. Weil wir Angst haben. Und wenn wir Angst haben, erreichen uns rationale Argumente nicht mehr. Erst Recht kein Spott und Auslachen. Das grenzt nur weiter aus und macht die Verteidigungsmechanismen nur noch härter.

Kein Klopapierwitz der Welt wird einen Horter davon abhalten zu Hamstern.

Auch wenn das von außen betrachtet total absurd ist. Doch für den Hamsterer ist es bitterer Ernst. Weil die Angst ihn am Sack hat. Um es mal drastisch auszudrücken. Weil es nun mal drastisch ist. Die nackte Angst.

Ich gehöre nicht zu den Hamsterern. Weil ich die Angst kenne. Sehr gut sogar. Dennoch merke auch ich, wie das Herdenverhalten mich ansteckt, wenn ich diese überfüllten Einkaufswagen sehe. Wie auch in mir leise Zweifel aufkommen für absurde Theorien und die leise Frage: Was ist, wenn sie recht haben? Doch weil ich die Angst gut kenne, meinen alten Bekannten, halte ich innerlich dagegen und denke an die Mutter, die jetzt für ihr Kind keinen Geburtstagskuchen backen kann. Und bleibe bei meinen Walnüssen und dem Joghurt.

Weil es absurderweise die Horter sind, die dafür sorgen, dass andere jetzt hungern müssen. Weil es Menschen gibt, die nur wenig Geld haben. Die vielleicht besonders wegen den Folgen von Corona noch weniger Geld haben. Die Freiberufler, die Selbstständigen, die Künstler und Geschäftsinhaber, die Restaurantbesitzer und alle, die vom Tourismus abhängig sind. Sie müssen jetzt ganz anders haushalten. Sie können nicht einfach für drei Monate im Voraus einkaufen. Und ausgerechnet für sie ist dann nichts mehr da, wenn sie mal Geld haben.

Ihre Angst ist noch um einiges größer. Weil sie nicht nur die allgemeine Angst vor der Pandemie haben. Vor dem Krankwerden. Vor dem Verlust geliebter Menschen. Sondern auch noch vom finanziellen Überleben.


Ich habe die letzten Tage nicht viel geschrieben bei Lütte Lockes Landhuus, weil ich diese Ängste kenne. Für Suizidhinterbliebene und Menschen, die schon tiefe Lebenskrisen erlebt haben, ist diese Zeit doppelt schwer. Weil sie triggert.

Eigentlich wollte ich einen Beitrag schreiben über die Wärme. Über die Wärme in Lütte Lockes Landhuus. Ich wohne jetzt seit zwanzig Jahren hier. Fast. Am 2. April 2000 bin ich hier eingezogen. Und bis vor kurzem habe ich immer gefroren in diesem Haus. Zwanzig Jahre lang. Wer in einem alten Haus wohnt, das nicht saniert ist, weiß vielleicht, was ich meine. Dieses ständige Dauerfrösteln, das vom Fußboden aus hochkriecht, bis es einen komplett durchgekühlt hat. So übrigens funktioniert Angst auch.

Für die meisten anderen ist ein warmes Zuhause selbstverständlich. Für mich war es das nie. Und ich freue mich wie Bolle, dass es das jetzt ist. Zumindest der vordere Teil, in dem wir gerade wohnen. Ich freue mich immer noch darüber. Trotz Corona. Ich genieße sie jedem Tag aufs Neue. Weil die Wärme für mich Luxus ist. Und daran wollte ich euch teilhaben lassen. An der wohligen Wärme. Dass Wunder geschehen. Auch wenn sie für andere schon lange Realität sind. Hoffnung eben.

Doch die Zeiten haben sich geändert. Den meisten Menschen wird nun ebenfalls bewusst, dass wir kein Recht auf Wärme haben. Ich weiß das. Denn ich habe das erlebt. Wenn das Leben, das für alle anderen normal ist, für einen selbst aufhört zu existieren. Gerade als ich mich getraut habe darauf zu vertrauen, auf das Leben, auf die Wärme, kam Corona. Und mit der Pandemie der ganze Mist der letzten vier Jahre. Ich habe eine scheiß Angst. Ich habe Angst, dass ich schon wieder Menschen verliere. Dass Menschen, die ich liebe, an dem Virus sterben.


Der Wikinger wird fünfzig in diesem Jahr und hat ein robustes Immunsystem. Dennoch. Ihn zu verlieren … mir fehlen die Worte, um zu beschreiben, was das für mich bedeuten würde. Klar, muss auch er irgendwann sterben. Wir alle leben nicht ewig auf dieser Erde. Aber bitte nicht jetzt. Ich hatte zwei Todesfälle in den letzten drei Jahren. Ich habe also Erfahrungswerte. Ich weiß, ich kann das. Aber ich will nicht. Doch wer will das schon? Und dennoch werden einige von uns es erleben müssen. Das ist die Realität. Und das ist das Problem. Dass die Angst real ist.

Die Lütte Locke hat Angst. Schon wieder ein Elternteil oder vielleicht sogar beide zu verlieren. Sie hat Angst, dass es dann wieder so wird wie damals. Sie sagt das sogar genauso. Sie sagt, sie hat Angst, dass Papa stirbt und Mama dann zwar da ist, aber doch keine Zeit hat, weil sie so viel arbeiten muss, wenn Papa stirbt, und dass es Mama dann auch nicht so gut geht. Ja, scheiße. Genauso war es. Und auch wenn ich mich bemüht habe, das abzufedern, ist es mir nicht gelungen. Das Kind hat den Tod geschmeckt. Das war Realität.

Ich habe Angst um meinen Job. Ich bin abhängig von den Spenden anderer. Die wiederum abhängig sind von der wirtschaftlichen Entwicklung. Wird das Projekt Blattwenden weiter existieren? Werde ich weiter für andere Suizidhinterbliebene und Menschen in Lebensumbrüchen schreiben können? Wird mein Verein, der mich angestellt hat, weiter existieren können? Wird mein Traum, in unserer Scheune, Kreativzeiten für Betroffene anbieten zu können, nicht in Zukunft Luxus sein? Wird dieser Luxus  Realität?


Unser größten emotionalen Brocken, unsere schlimmsten Traumata – in unserem Fall der Verlust geliebter Menschen und ein finanzieller Ruin – kommen mit solch einer existenziellen Krise wie einer Pandemie wieder hoch. Mit allem, was dazu gehört. Mit Horrorszenarien im Kopf, mit körperlicher Unruhe, Albträumen und dem ganzen Kack.

Deshalb war ich ein paar Tage still. Weil ich sie erst wieder neu ansehen musste, die Angst. Weil ich sie wieder willkommen heißen musste, auch wenn ich es nicht will. Weil die Welt jetzt das erlebt, was wir vor fast vier Jahren erlebt haben. Weil sich jeder Tag mit all seiner Informationsflut so anfühlt wie eine Woche. Weil wir plötzlich wieder mitten drin sind in der Krise.

Doch etwas ist anders. Dieses Mal betrifft es uns alle.

Auch wenn einige das noch nicht wahr haben möchten oder können. Weil sie anders auf die Angst reagieren. Weil sie die Angst wegdrücken. Weil sie die Angst leugnen. Auch das ist – leider – je nach Persönlichkeitstyp normal. Die Rebellion, das nicht wahrhaben wollen, im Kollektiv – mit Corona-Partys und Treffen der Kinder auf den Spielplätzen und Touristen, die in Scharen am Wochenende an unserem Haus vorbei in Richtung Küste gefahren sind. Verdrängung ist die Flucht vor der Angst. Doch dadurch wird sie nicht verschwinden. Sie holt uns immer ein. Weil sie Realität ist.


Ich habe bei Lütte Lockes Landhuus geschrieben, dass ich nicht viel Schlaues zu sagen habe, weil andere jetzt die besseren Experten sind. Doch ich habe mich geirrt. Zumindest teilweise. Zur Pandemie kann ich nicht viel sagen. Auch nicht zur Wirtschaftslage. Aber. Ich habe so eine Kacke schon überlebt. Ich weiß nicht, ob ich ein Experte bin, aber ich habe nicht nur den Suizid meines Mannes überlebt, sondern auch Schulden, Traumata und davor zwanzig Jahre mit Behinderungen, Ausgrenzungen und Todesfällen. Vielleicht könnte ich doch etwas zu sagen haben?  

Deshalb. Wie immer: Trotzdem. Trotzdem will ich weiter leben und lieben. Zumindest solange ich es kann. Und der erste Schritt dazu ist, zuzugeben, dass sie da ist, die Angst.

Im Grunde ist die Angst nicht das große, fiese Monster. Im Grunde ist sie ein Alarm. Der uns aufmerksam macht für eine Gefahr. Damit wir unser Verhalten ändern. Und genau das ist jetzt wichtig. In diesem Sinne können wir die Angst willkommen heißen. Und sagen: Ich mag dich zwar nicht, aber danke, dass du mir hilfst, die Realität anzuerkennen.

Denn wenn wir sie akzeptieren und annehmen und sie aussprechen, können wir mit ihr umgehen. Dann wird sie nicht übergroß und wächst auch nicht zur Panik heran. Denn Panik ist wirklich das große, fiese Monster. Und das hilft niemandem. Deshalb gilt ähnlich wie „flatten the curve“ und „bleibt zuhause“ und „wascht euch die Hände“ – „welcome fear without panic.“ Wie das gehen kann, – wie man Angst daran hindert, zu groß zu werden – wie man Panik wieder schrumpfen lässt zu Vorsicht – wie man trotzdem weiterl(i)ebt, dazu kann ich was sagen. Wenn ihr es lesen und hören mögt.

Denn – und das finde ich ganz großartig! – da draußen gibt es jetzt auch viele gute Stimmen, die etwas bewegen. Die sicher viel mehr und viel Kompetenteres zu sagen, als ich. Aber falls es doch etwas gibt, was andere nicht schon gesagt haben, werde ich eben doch den Mund aufmachen. Gegen die Panik. Für die Liebe.

Weil wir eben nicht alleine sind. Auch wenn sich das in der Wohnung zuhause jetzt gerade so anfühlt. Das stimmt nicht. Das ist keine Realität. Wir sind nicht allein in der Krise. Egal ob in kalten oder warmen Häusern. Die Realität ist: Wir l(i)eben.


Am Ende dieses – wie immer etwas pathetischen Textes – gibt es dieses Mal keine Stilblüte. Sondern was Praktisches: Ich werde bei FB und Instagram und hier auf dem Blog in den nächsten Tagen eine neue Rubrik eröffnen. Und daran seid ihr Schuld. Weil ihr mich inspiriert habt. Einige von euch haben mir geschrieben, wir sollten jetzt unseren Garten genießen bei Lütte Lockes Landhuss. Und das werden wir tun. Und wir werden das mit euch teilen.

Weil jetzt viele von euch so tapfer sind, zuhause zu bleiben, während die anderen da draußen weitermachen, um unser System am Laufen zu halten. Euch alle, die Ausharrer, die Durchhalter, die Ängstlichen, die Traumatisierten – werde ich virtuell mitnehmen in unseren Garten nach Ostfriesland. So könnt ihr auf Reisen gehen, so könnt ihr den Frühling erhaschen, auch wenn ihr zuhause bleiben müsst.

Ich weiß, dass das ein bestimmtes Risiko beinhaltet, weil Urlaubsbilder in Social Media auch dazu führen können, dass der Lagerkoller noch schlimmer wird und man den Verlust mehr spürt. Deshalb schaut am besten nur vorbei, wenn ihr euch das zumuten könnt. Als kleiner Trost: Da das Wetter in Ostfriesland nicht wie auf den Kanaren ist, werden es keine instagrammäßige Paradiesbilder sein. Ich benutze sowieso kaum Filter.

Zu den Fotos gibt es außerdem Impulse zum Umgang mit Angst und Panik, mit Trauer und Veränderungen. Auch das kann Trigger auslösen, aber ich hoffe, dass die Kombination von Fotos und Impuls sich gegenseitig etwas aufheben. Und vielleicht möchtet auch ihr anderen, die einen Garten haben oder in die Natur gehen können, eure Bilder und Gedanken dazu beitragen?

Das ist es, was ich tun kann, in dieser Zeit. Die nackte Angst einkleiden. Vielleicht bekommt sie so ein besseres Ansehen.           

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