Papa,
ganz ehrlich, deine Sturheit konnte einen wahnsinnig machen. In machen Dingen warst du unbelehrbar. Was das Rauchen anging. Und das Trinken. Und den Süßkram. Das hat dein Leben stark beeinflusst. Und es stark verkürzt.
Aber ich verstehe, warum. Das war nicht einfach, damals, als Fünfjähriger auf dem Dorf, der plötzlich keinen Papa mehr hatte. Vor allem wenn man sensibel ist. Und dazu noch ein Junge in den 1950er-Jahren. Da muss man etwas haben, was einen schützt. Was einen stark macht. Und du hattest nicht viel.
Immerhin deinen Sturkopf. Der hat dir oft den Arsch gerettet. Auch als Erwachsener. Du bist oft hingefallen. Und hast dich immer wieder aufgerappelt. Du hattest Lebensträume, die zerbrochen sind. Vom erfolgreichen eigenen Geschäft. Vom eigenen Häuschen. Von der Sicherheit für deine Familie.
Noch vor ein paar Wochen habe ich dir gesagt, dass ich deshalb stolz auf dich bin. Auch wenn du deine Träume nicht so leben konntest, wie du es dir gewünscht hast: Du hast nie aufgegeben. Du hast immer weiter gemacht. Und Teilziele erreicht: Ein Häuschen im Schrebergarten, deine Rente, eine Enkeltochter, die von dir sagt, dass du ein Quatschkopf bist. Was eine hohe Ehre ist, denn das ist eine ihrer größten Auszeichnungen.
Du warst immer für andere da, wenn sie zwei starke Hände brauchten. Deine Liebe hast du durchs Machen gezeigt. Keine Ahnung, wie viele Bäder und Böden du in deiner Freizeit für uns und für andere gefliest hast. Wie vielen Menschen du nicht nur Versicherungen verkauft, sondern ihnen in Lebenskrisen aus der Scheiße geholfen hast.
Das hat dich viel gekostet. Zeit. Zeit mit mir als Kind. Nerven. Du warst immer auf Volldampf. Deine Gesundheit. Letztendlich dein Leben. Trotzdem. Trotzdem bin ich stolz auf dich. Deinen Dickschädel, dein Durchhaltevermögen, deine Hilfsbereitschaft, deine Macher-Art.
Wir sind uns sehr ähnlich. Und doch verschieden. Wenn ich über Gefühle reden wollte, hast du oft die Flucht ergriffen. Oder bist aufbrausend geworden. Meine Fresse, konntest du wütend werden! Und das konntest du auch gezielt einsetzen.
Weil du eine scheiß Angst hattest. Vor dem Schwach sein. Denn wer würde das aushalten? Zum Schluss haben wir das ausgehalten. Dich gehalten. Das haben wir immer. Wenn du uns gelassen hättest.
Manchmal, ganz selten, gab es das. Das gemeinsame Weinen. Das gemeinsame Wütend sein. Doch es waren heimliche Momente. Ich kann sie an einer Hand abzählen. Deine Kollegen, deine Kumpel, deine Kneipenfreunde, sie durften davon nichts wissen.
Bei ihnen warst du gesellig. Lustig. Unterhaltsam. Du hast es gemocht, ein Teil des Ganzen zu sein. Gefeiert zu werden. Der Hahn im Korb zu sein. Mit Geschichten zu brillieren.
Was haben wir gestöhnt, wenn du wieder eine Anekdote aus der Kindheit oder von jemanden, den wir nicht kannten, zum x-ten Mal zum Besten gegeben hast. Wir kannten sie fast auswendig.
Doch jetzt fällt mir keine mehr ein. Und du wirst sie nie wieder erzählen. Sie sind fort. Genauso wie deine 1970er-Jahre-Ausdrücke. Als du noch mit ein paar Puppen schwofen warst.
Auch wenn es den Anschein hatte, dass du nur selbst reden wolltest, und nicht zuhörst, was andere sagen – das stimmte nicht. Du warst ein Detail-Merker. Wenn wir etwas erzählten, hast du dir einen Fakt gemerkt und viel darüber nachgedacht – und dabei den Rest nicht mehr mitbekommen.
Dafür konntest du uns bei anderen Gelegenheiten mit diesem Detailwissen überraschen. Denn du hast dich sehr wohl für andere interessiert. Du warst neugierig. Fast ein männliches Klatschweib. Und auch diese Fähigkeit, dieses Wissen ist mit dir gegangen.
Wie immer, wenn jemand stirbt, wünschte auch ich mir, wir hätten mehr Zeit miteinander gehabt. Mehr Vater-Tochter-Abenteuer. Wie damals im Wald. Bei den Wanderungen in Hessen. Als wir unsere Namen in den Baum geschnitzt haben.
Nie wieder werden wir zusammen wandern gehen. Nie wieder zusammen im Transporter die Sauerlandlinie hinaufröcheln. Nie wieder etwas reparieren. Nie wieder wirst du mich beim Tanzen umherschubsen mit deinem wackeligen Hüftschwung. Nie wieder wirst du mir mit deinem Schnarchen den Schlaf rauben. Nie wieder werden wir um die Wette pupsen. Nie wieder wirst du mich linkisch umarmen und zu feste meine Hand drücken. Nie wieder wirst du zu mir sagen: „Mein Mädchen.“
Papa, du hast mich viele Nerven gekostet. Aber die habe ich dir gerne gegeben. Denn du warst mein Papa. Und du bleibst mein Papa. Ich werde dich immer lieb haben. Du, Sturkopf.
Deine letzten Worte an mich waren: „Bis die Tage.“ Himmlisch betrachtet ist es vermutlich auch nur ein Wimpernschlag. Bis dahin sei gesegnet. Ich hoffe, du richtest Markus den Tritt in den Arsch aus. Und dann geht ihr zusammen was trinken. Du ein Pils und Markus ein Desperado. Und lass den anderen im Himmel noch was übrig vom Magenbrot und vom kalten Hund. Ich trinke einen Cuba-Libre auf dich. Aber nur einen.
Dein Mädchen.