Stuhlreformation

Da saß ich also zum ersten Mal wieder in diesem Sessel. Nach mehr als über zwei Jahren. Es fühlte sich merkwürdig an. So vertraut. Und doch so fremd. Wie aus einer anderen Zeit. Als ich noch eine andere war. Doch ich passte immer noch hinein. Und nahm auch wieder diese typische Haltung ein, die dieser Sessel einem fast aufdrängt. Aber vielleicht meine ich das auch nur. Weil sie sich sicher anfühlt, diese Sitzposition. Sicher und gemütlich zugleich. Ich fühlte mich plötzlich wieder kompetent. Denn ich habe das nicht allzu blöd gemacht, wenn ich in diesem Sessel saß. Ich mochte meinen Job.

Ach was, ich habe es geliebt.

 

An dem Tag, an dem Markus für immer weggefahren ist, hatte ich am Morgen ein Treffen mit Lütte Lockes Patentante. Wir waren und sind nicht nur Freundinnen, wir hatten auch denselben Beruf. Wir begleiteten Menschen durch Krisensituationen. Ich steckte gerade in einer Findungsphase und hatte sie gebeten, mich zu coachen. Denn wir wollten etwas ändern.

Markus hatte einen Burnout, so dachte ich, so sagte er. Zumindest war er ständig müde und hatte immer mehr Phantomempfindungen – typische Symptome für chronischen Stress, dachte ich, sagte er. Wir hatten fast zehn Jahre lang eine psychologische Beratungsstelle auf Spendenbasis betrieben. Das und der Umstand, dass unser Haus marode und unsere Lütte Locke seit drei Jahren neu in unserem Leben war, führte dazu, dass wir umdenken wollten.

Markus wollte sein Potential als Lehrer mehr entfalten und Menschen ausbilden, damit sie andere Menschen psychologisch beraten können. Und ich wollte lieber mehr schreiben. Und vielleicht mit Gruppen arbeiten. Auf jeden Fall wollten wir weg vom „Tagesgeschäft“, von der Arbeit mit einzelnen Ratsuchenden. Und wir wollten mit EDENerdig voll durchstarten, unserer christlichen Initiative für Inklusion. Damit sich die Situation für Menschen mit Behinderungen und Menschen, die am Rand der Gesellschaft stehen, langfristig verbessert. Besonders, weil wir Christen waren, weil wir fanden, dass das die Kernbotschaft des christlichen Glaubens ist: die Liebe.

 

Während ich diese Zeilen schreibe, spüre ich ihn wieder, diesen Gerechtigkeitssinn. Dieses Gefühl, dass ich etwas ändern, bewegen möchte. In Richtung Nächstenliebe, Freiheit und Gleichwertigkeit. Es ist immer noch da. Wie dieser Sessel.

Auch damals, an diesem Tag. Er hatte großartig angefangen, der Tag der Picknickdecke. Ich hatte mit meiner Freundin über die Gründung eines eigenen Vereins für EDENerdig gesprochen. Wir hatten alles vorbereitet, die Satzung war fertig, die Gründungsmitglieder standen in den Startlöchern; an diesem Tag hatten wir die nächsten Schritte besprochen – die Notiz darüber ist immer noch in meinem Smartphone. Und dann?

Tot.

Mit einem Mal war alles weg.

 

Nicht lange nach Markus Tod – ich schätze, eine oder zwei Wochen danach – räumte ich unsere Beratungsstelle leer. Zumindest das Papier. Zu diesem Zeitpunkt machte mir noch alle Welt Druck, ich solle möglichst schnell das Haus verkaufen. Mein Zukunftsszenario schien so auszusehen: Haus verkaufen, Wohnung mieten, Kind im Kiga eingewöhnen, Job suchen. Ich ließ mich nicht drängen und zog jeden Tag eine neue Variante der Zukunft in Betracht, weil sich auch jeden Tag neue Möglichkeiten ergaben. Doch was auch immer passieren würde, klar war, dass ich alleine keine Beratungsstelle mehr führen könnte. Und auch nicht wollte.

Diese Arbeit war unser gemeinsames Projekt gewesen. Jeder von uns hatte darin seine Schwerpunkte gehabt. Beide besaßen wir unseren eigenen Beratungsstil, auch wenn wir dieselben Werte und dieselbe Auffassung hatten, wie man Menschen begleitet. Doch neben der Beratung war ich die Schreibende und Markus der Redner gewesen. Ich war für Texte, Kommunikation, Fundraising und Social Media zuständig, Markus für Vorträge, Predigten und Schulungen. Er konnte vor vielen Menschen gut strukturiert und trotzdem mitreißend und berührend reden. Darin war er unglaublich gut. Etwas, das ich nicht konnte und das mir auch nie liegen wird. (Und da er jetzt tot ist, kann er mir auch nicht widersprechen. Ha!)

Mit seinem Tod war all das gestorben. Der einzige Gedanke war: Überleben. Da war für einen Verein kein Platz mehr. Und auch nicht für eine Beratungsstelle. Also nutzte ich die Gunst der Stunde, dass Markus´ Mutter und meine Eltern noch vor Ort waren, und räumte ihre Autos bis oben hin voll mit unserem Öffentlichkeitsmaterial, damit sie es zur Mülldeponie fahren konnten.

 

Wir hatten so wunderschöne Broschüren. Gerade erst hatten wir neue Flyer und Bierdeckel drucken lassen – für eine Spendenaktion, damit Markus nach zwanzig Jahren wieder Motorradfahren kann. Auch das sollte ein Projekt des neuen Vereins werden. Markus als cruisender Krüppelprediger. So nannte er sich. Das polarisierte, diese Bezeichnung gefiel nicht jedem. Doch gerade deshalb hatte er sie sich ausgesucht. Weil man nur etwas bewegt, wenn man jemanden berührt oder wachrüttelt – notfalls auch, indem man zum Ärgernis wird. Weil er kaputt und trotzdem voller Hoffnung war. Dachte ich. Sagte er.

Es war fraglich gewesen, ob dieser Traum Wirklichkeit werden würde. Jetzt war die Wirklichkeit, dass nicht nur dieser Traum gestorben war. Markus hatte keine Hoffnung mehr. Er fühlte sich nur noch als Krüppel. Nicht als Prediger. Und ging sterben.

 

Als ich den Deckel des Kofferraums meiner Schwiegermutter mit Wucht zuschmiss, damit er trotz seiner Fülle auch zublieb, fielen zwei, drei Broschüren hinaus. Ich hob sie auf und als ich sie ansah, begann ich zum ersten Mal nach Markus´ Tod richtig zu weinen. Unkontrolliert, mit Zittern und Wanken und Jaulen und Schnodder überall. Seitdem betrachte ich die Bibelstelle „Und es wird Heulen und Zähneklappern sein“ mit anderen Augen. Es tat so höllisch weh. Ich benutze dieses Wort ganz bewusst. Denn da in diesem Augenblick wurde mir mit einer Art ewigen Sicherheit klar: Es ist vorbei. Für immer.

Das Schließen des Kofferraumdeckels war das Schließen des Sargdeckels der Beratungsstelle. Und damit auch meines Berufs als psychologische Beraterin.

Dachte ich.

Anfang dieses Jahres, mehr als eineinhalb Jahre nachdem ich den Sargdeckel geschlossen hatte, war ich in einer Reha. Gemeinsam mit den Therapeuten kam ich zu dem Schluss, dass ich nicht mehr mit Klienten arbeiten kann. Die Gefahr einer Re-Traumatisierung ist zu groß. Wenn mir jemand gegenübersitzt, der ähnlich ist wie Markus oder suizidale Gedanken äußert, kann ich keine professionelle Distanz mehr wahren.

Das habe ich besonders in den Trauergruppen gemerkt. Es gab bei zwei Patienten Überschneidungen mit Markus´ Verhalten und Gedankenmustern. Und ich konnte mich nicht zurückzuhalten. Ich musste mich einmischen, kritisch hinterfragen und schaffte es nicht neutral zu bleiben. Als Mitpatientin ist das absolut okay, aber nicht als Beraterin. Dieser Sargdeckel bleibt also für immer geschlossen.

Gleichzeitig fand ich mich aber plötzlich in der Rolle wieder, eine freiwillige Trauergruppe zu moderieren. Das machte mir sogar Spaß! Ich wollte schon immer mit Gruppen arbeiten, aber wegen der kleinen Räumlichkeiten in unserer Beratungsstelle war das nie möglich gewesen. Und da ich ja wusste, dass ich nie wieder in diesem Berufsfeld arbeiten würde, genoss ich es fast, diesen Teil meines alten Jobs nachholen zu dürfen. Und dann noch die Mal- und Kreativtherapie. Ich liebte es. Schon immer. Doch auch dafür war nie Raum gewesen. Nicht nur wegen der kleinen Zimmer. In jeglicher Hinsicht.

Gegen Ende der Reha sprach mich eine neue Patientin beim Essen an. Sie sagte: „Ach, du bist doch die nette Therapeutin. Ich habe schon viel Gutes von dir gehört.“ Und ich dachte nur: „What?“ und sagte: „Nee, ich arbeite nicht hier, ich bin Patientin.“ – „Ja, ich weiß. Aber meine Freundin sagt, du bist so einfühlsam und gleichzeitig tough in der Trauergruppe. Sie wünschte sich, ihr Therapeut wäre so. Deshalb nennt sie dich die nette Therapeutin.“

Ich hielt das für ein Missverständnis oder eine Verwechslung.

War es nicht.

Tja.

 

Dieser beschissene Sargdeckel. Er hat mir in den letzten Wochen den Schlaf geraubt. Weil er in letzter Zeit immer mal wieder aufgegangen ist. Und weil es sich so eingebrannt hat, dieses Erlebnis mit dem Kofferraumdeckel und der Beratungsstelle.

Die jetzt nur noch als Lagerraum genutzt wird und in der es immer noch einige Stellen gibt, die ich bis heute nicht verändert habe. Meine Büroecke. Die Klientenordner. Und die Bordüre aus Postkarten unserer „Leuchtturmwärter.“ So hießen unsere Unterstützer, die finanziell dafür sorgten, dass wir das überhaupt machen konnten – Menschen hier im ländlichen Raum professionelle Beratung anzubieten, auch wenn sie nicht die finanziellen Mittel dazu hatten. Das war das Besondere an unserer Arbeit bei Kleiner Leuchtturm. Dieses Patenschaftsmodell. Das trotz aller Zweifler funktionierte. Fast zehn Jahre lang. Bis Markus starb.

Da ist also etwas, an das ich noch nicht ran wollte. Weil der Verlust so groß gewesen war. Ich musste zuerst verdauen, dass mein Ehemann gestorben war. Mein Partner, mein bester Freund. Der Vater meiner Tochter. Und zuletzt auch mein Arbeitskollege. Alle sozialen Rollen, die man im Leben einnehmen kann, waren mit einem Schlag weg. Ein Schlag ins Herz. Es ist eine Klischee-Metapher, aber es hat mich innerlich zerrissen, damals, als ich den Kofferraum schloss. Zerfetztes Beraterherz.

 

Auch heute noch gehe ich ungern in die ehemalige Beratungsstelle. Davon abgesehen, dass sie feucht geworden ist, weil ich sie nicht mehr heizen kann, und mittlerweile auch – ausgerechnet in Markus´ ehemaligem Beratungsraum, welch eine Metapher! – der Boden eingebrochen ist, weil ein Balken verfault ist: Es tut immer noch weh.

Wir haben so viele Jahre daran gearbeitet. An diesem Traum. Mit so vielen Menschen. Die beim Renovieren der Räumlichkeiten geholfen haben, die uns finanziell unterstützt haben. Die als Klienten zu uns kamen und als befreite Menschen wieder gingen. Es tut einfach scheiße weh.

Und jetzt soll ich die guten Erfahrungen und guten Dinge dieser Zeit wieder unter dem Sargdeckel hervorholen und von vorne beginnen? Bin ich eigentlich völlig verrückt?

Sieht ganz so aus.

 

Vor zwei Wochen saß ich wieder mit Lütte Lockes Patentante zusammen und besprach Strategien für ein neues Konzept. Für eine Verbindung aus Neu und Alt. Auch dieser Blog spielt dabei eine Rolle. Worum es genau geht, könnt ihr im aktuellen Newsletter nachlesen. Mir geht jedenfalls der Arsch auf Grundeis, kann ich euch sagen. Weil das gruselig ist, einen Sargdeckel zu öffnen. Man weiß nie, was man darin findet. Verwesung? Knochen? Gar einen Zombie? Oder bloß Erde, aus der neues Leben wachsen kann?

Doch besser einen kalten Hintern als einen Biss im Po.

Denn wenn ich es nicht versuche, meinem Herzen zu folgen und das zu machen, was ich schon immer wollte – dann beiße ich mir in den Arsch. Ich will und muss es zumindest probieren, dieses Projekt. Schließlich ist mein Motto „Don´t ever give up,“ mit Komma. Nicht mit Punkt und Satzende.

Ob es mir gelingt? Keine Ahnung. Als ich dieses Mal nach unserem Treffen nach Hause kam, waren jedenfalls alle da. Und alle blieben da. Niemand ging für immer weg. Niemand ist gestorben. Kein Totenmief kam aus dem Sarg. Höchstens ein freundlicher Geist. Eine Art Überlebender aus meinem alten Leben. Eine alte Seele. Mein alter Sessel. Und damit meine alte Körperhaltung. Und vielleicht auch alte Fähigkeiten.

 

Alt zu alt: Weil alte Freunde zu Besuch kamen und wir nicht genug Sitzmöglichkeiten hatten, hat der Wikinger meine zwei alten Sessel aus der ehemaligen Beratungsstelle geholt und sie ins Wohnzimmer gestellt. Ich habe mich in einen der Sessel gesetzt und sofort war sie wieder da, die Psychotante, der Analyseprofi. Doch das fühlte sich irgendwie falsch an. Also experimentierte ich ein wenig, tauschte die Sitzpolster aus und setzte mich anders hin, änderte meine Haltung und den Blickwinkel.

Zum Spaß habe ich den Wikinger dann mit Coachingfragen gelöchert. Nach drei Minuten musste er aufstehen und den Raum verlassen. Er hatte ein Aha-Erlebnis.

Und ich auch.

Von jetzt an nenne ich den Sessel: Stuhl.

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