„Trauern ist, finde ich, ein riesiges Geschenk“ – Trauer-Talk mit Chris Paul, Teil 1

Foto: Amanda Dahms

Chris Paul ist eine der Urgesteine, wenn es um Trauer nach Suizid geht. Seit 1998 beschäftigt sie sich hauptsächlich mit diesem Thema – sie hat eine Praxis für Trauerbegleitung sowie ein eigenes Weiterbildungsinstitut und ist Autorin mehrerer Bücher.

Warum Trauer nicht automatisch ein trauriges Thema und nicht immer ein Trauma sein muss; welche Fehlannahmen es im Bezug auf Suizidtrauer noch gibt, und warum sie dieses Thema so beschäftigt – darüber haben wir in unserem Trauertalk ausführlich geschnackt:


Frau Paul, wie kam es dazu, dass Sie Trauer zu Ihrem Beruf gemacht haben? Man sagt ja nicht unbedingt nach dem Schulabschluss: „Ich will Suizidexpertin werden!“

Trauerberatung und -begleitung stand ganz sicher nicht auf meiner Berufswahlliste. Aber 1985, als ich zweiundzwanzig Jahre alt war, hat sich meine damalige Partnerin das Leben genommen. Das war eine Zeit, wo es so gut wie nichts zum Thema Trauer gab. Eine Zeit, in der Suizid als Todesursache noch viel mehr tabuisiert und stigmatisiert war als heute.

Ich habe danach noch zwölf Jahre meinen ursprünglichen Lebensentwurf fortgesetzt: Ich war Künstlerin und als Liedermacherin unterwegs, habe geschrieben und hatte einen kleinen Selbstverlag. Im Frauenmuseum habe ich ein großes Ausstellungsprojekt betreut.

Erst 1997 habe ich gemerkt, dass ich das alles nicht mehr erfüllend finde, und habe mein Berufsleben umgestellt: Ich habe noch mal studiert, Weiterbildungen gemacht. Dann ist auch mein erstes Buch „Warum hast du uns das angetan?“ erschienen.

Was genau haben Sie studiert? Psychologie?

Ich habe Soziale Verhaltenswissenschaften studiert. Das ist eigentlich das Grundstudium Psycholgie, aber in Kombination mit Soziologie. Das habe ich sehr bewusst gemacht. Ich wollte nicht klinische Psychologin werden, weil ich dieses ganze Krankheitsdenken nicht unterstütze. Da Trauer – alle Trauerprozesse, und natürlich besonders Suizidtrauer eine hohe psychologische und gesellschaftliche Komponente hat, war das genau das Richtige für mich.

Was würden Sie sagen, ist Trauer für Sie?

Ich rede immer vom Trauern. Das ist mir wichtig. Trauern ist ein natürlicher und ganzheitlicher Prozess, der eine Reaktion auf Verluste von Menschen oder auch Idealen oder teilweise Haustieren ist. Das, was wir da verlieren, hat unserem Leben existenzielle Bedeutung verliehen.

Sie betonen immer wieder, dass Trauern nicht das Problem ist, sondern die Lösung …

Der Satz hat für Furore gesorgt, weil er, glaube ich, einen Nerv trifft. Trauer wird von Trauernden, aber vor allem auch von der Umwelt eher negativ belegt. Sie gilt als anstrengend, als nervig. Es gibt Sprüche, in denen es darum geht, irgendwann wieder „im Leben“ zu sein. Ich finde es schwierig, das so zu sehen, weil wir dadurch etwas abwerten, was existenziell für unser Leben ist.

Ich erlebe Trauerprozesse im Grunde als massive, aber großartige Transformationsprozesse.

Sie ermöglichen es uns, Abschiede von Menschen, aber auch von Idealen überhaupt, zu überleben und auszuhalten, wenn diese unserem Leben existenzielle Bedeutung gegeben haben. Trauern ist das, was uns befähigt, nicht hinterherzusterben, nicht im ewigen Elend zu versinken, sondern Umgangsweisen emotional, kognitiv und auch im Handeln zu finden. Das ist, finde ich, ein riesiges Geschenk.

Wir drücken uns ja gerne vor unangenehmen Dingen. Warum ist es trotzdem wichtig, sich der Trauer zu stellen?

Wenn wir etwas unterdrücken, was da ist, macht uns das krank. Wenn ich furchtbar verliebt bin und das über Jahre nicht sagen mag, macht mich das unglücklich. Oder wenn ich sehr unzufrieden bin im Job und mir immer einrede, ich wäre es nicht. Dann macht mich das auf Dauer stumpf. Wenn wir davon ausgehen, dass Trauer ein natürlicher Prozess ist, der sowieso abläuft, ist es sehr gesund für uns, uns dem irgendwann zu stellen und uns das anzugucken.

Ich bin keine, die sagt, dass man alles sofort fühlen, machen und tun muss. Dinge geschützt, wohldosiert und vorsichtig anzugehen, sind wichtige Aspekte in meiner Arbeit. Es braucht ein gesundes Gleichgewicht zwischen „Ich will mich mit etwas anderem beschäftigen!“ und „Ich brauche den Raum, die Zeit, den Mut, die Unterstützung, um mich mit den Gefühlen und Gedanken auseinandersetzen zu können!“. Das braucht seine Zeit.

Eine klassische Frage ist ja: Wie lange dauert das, bis ich mit dem Trauern durch bin …

Ich bin eine, die mit drei bis fünf Jahre rechnet – teilweise noch viel länger. So lange brauchen wir Raum für die innere Beschäftigung mit dieser Transformation. Studien zeigen, dass, wenn wir nur verdrängen, wenn wir Dinge permanent wegpacken und nicht angucken, wenn wir diese Gefühle nicht haben wollen, dass das dann irgendwann zu somatischen Erkrankungen führt. Wie alles, was wir dauerhaft verdrängen.

Auch Freunde sind in Bezug auf Trauer oft verunsichert, nach einem Suizid oft noch mehr. Was möchten Sie ihnen mit auf den Weg geben?

Viel! Ich glaube, dass es sehr hilfreich ist, das Thema Suizid gar nicht so sehr in den Blick zu nehmen. Es hat sich jemand das Leben genommen – der Mensch, der vor mir sitzt, hat es nicht getan. Er sitzt da und trauert.

Diese ganzen Erwägungen, was ein Suizid ist und warum Menschen sich das Leben nehmen, sind Fragen, die einen natürlich beschäftigen. Aber ich finde, die Hinterbliebenen haben Deutungshoheit. Die beschäftigen sich damit und entscheiden, mit wem sie darüber sprechen.

Angehörige und Freunde sollten sich vor allem auf den Trauerprozess und das veränderte Leben konzentrieren. Sie sollten sich fragen, was sie leisten können und wollen. Diese Idee, man müsste immer schlaue Ratschläge geben oder die richtigen Worte finde, ist unsinnig. Trauernde sagen, ganz unabhängig von der Todesart, dass es gut ist, wenn Menschen einfach weiter Freunde bleiben. Wenn sie normal da und praktische Unterstützer sind.

Wie macht man das? Ein praktischer Unterstützer sein?

Statt zu sagen: „Melde dich, wenn du etwas brauchst.“, sollte man lieber überlegen, was man konkret anbieten kann. Wenn ich regelmäßig spazieren gehe, kann ich anbieten, die Hunde mit rauszunehmen. Wenn ich gerne und viel koche, kann ich anbieten, ein Mal die Woche etwas zu essen vorbeizubringen. Ich bring meine Kinder sowieso in dieselbe Ballettschule? Dann kann ich anbieten, die Kinder des anderen mitzunehmen. Einfach proaktiv überlegen, was ich tatsächlich konkret anbieten kann, was mich auch nicht überfordert oder sauer macht.

Was sollte man noch einkalkulieren? Trauernde scheinen manchmal unberechenbar zu sein …

Man sollte eine hohe Toleranz für die Dünnhäutigkeit und teilweise auch die Sprachlosigkeit oder aber das schwallartige Reden von Trauernden mitbringen. Diese Menschen befinden sich in einer Ausnahmesituation. Da heißt es, geduldig zu sein und alle Sprüche wegzulassen.

Was konnte dieser Mensch gut, was hat uns verbunden? Nur nicht den Menschen zum armen Würstchen machen. Kein Mensch will dieses bedauernswerte Häufchen Elend sein. Man möchte in den Augen der anderen jemand sein, der durch eine Krise geht – aber der durch die Krise geht!

An der Seite stehen und unterstützen und gleichzeitig gut für sich selbst sorgen, damit man nicht auf halber Strecke sagt: Ich kann nicht mehr, ich finde dich blöd mit deiner Trauer. Stattdessen sich von Anfang an fragen: Wie halte ich das hier am Laufen, dass ich auch die nächsten drei bis fünf Jahre weiter mit dir befreundet sein kann?

Zum Thema Suizid gibt es viele Fehlannahmen. Welche müssten aus Ihrer Sicht dringend geradegerückt werden?

Eine der großen Fehlannahmen ist der Gedanke, dass man den Suizid, indem man darüber spricht, herbeiredet. Das ist erwiesenermaßen Quatsch. Wenn Menschen direkt oder indirekt über Suizidabsichten sprechen, ist es gut, wenn wir darauf eingehen – und zwar wirklich offen: Was ist los? Wie gefährdet ist jemand? Welche Hilfsmöglichkeiten gibt es?

Ich finde es problematisch, dass im Moment viel verkündet wird, dass jeder Mensch, der sich das Leben nimmt, vorher eine Depression hatte. Das stimmt nicht.

Das ist weder wissenschaftlich noch in den über tausend Geschichten, die ich hier in der Praxis hatte, haltbar. Es gibt viele unterschiedliche Wege, die zum Suizid führen können. Ich finde es wichtig, da genauer hinzugucken – sowohl im Vorfeld als auch in der Nachbetrachtung.

Ich glaube außerdem nicht, dass wir alle Suizide verhindern könnten. Genauso wenig glaube ich aber, dass wir keine Suizide verhindern können. Die Wahrheit liegt in der Mitte.

Haben Sie auch ein absolutes No-Go?

Ein Satz, der immer noch in Psychotherapien auftaucht und den ich schwierig finde, ist die Behauptung, dass jeder Suizid eigentlich eine Aggression gegen jemand anderen war.

Das ist eine schwierige Hypothese, gerade für Hinterbliebene, die mit der Vorstellung weiterleben sollen: Nicht nur hat sich mein Mann das Leben genommen, eigentlich wollte er mich und die Kinder umbringen. Das ist aus Trauersicht eine katastrophale Vorstellung, wo keine gute Erinnerung übrigbleiben kann. Wie ich es in meinem Leben und in den vielen Geschichten der Menschen, mit denen ich gearbeitet habe, erlebt habe, kann ich keine Wahrheit in diesem Satz finden.

Auch zum Thema Trauer nach Suizid gibt es Fehlannahmen. Welche möchten Sie gerne richtigstellen?

Bei Suizidtrauer finde ich es ein wenig bedenklich, dass es die Idee gibt, dass jeder Suizidhinterbliebene traumatisiert ist und unmittelbar und sofort in eine Traumatherapie überführt werden muss. Das sehe ich nicht so.

Ich sehe es auch nicht so, dass Suizidtrauer die absolut allerschlimmste, schrecklichste, nicht zu toppende Trauer ist. Da müssen wir uns nur trauernde Eltern angucken. Ich halte nichts von Rankings für Trauerprozesse. Es gibt sicherlich massive Risikofaktoren, wenn der Tod durch Suizid eintritt, aber ich halte alle Pauschalisierungen für schwierig. Dass Suizidtrauer etwas ist, mit dem man nicht leben kann, das man nicht ertragen kann, dass sie einen total kaputtmacht. Ja, das kann sie. Ich habe aber auch viele Menschen nach anderen Todesursachen hier gesehen, die sich komplett zerstört gefühlt haben und fühlen. Ich kann das nicht auf eine Todesart beschränken.

Wenn Sie so viel Schwere in Ihrer Arbeit erleben – wie sorgen Sie gut für sich selbst?

Zum einen ist das tatsächlich ein Teil der Ausbildung, eine professionelle Distanz und einen liebevollen Umgang mit sich selbst zu finden. Für mich ist es wichtig, so etwas wie eine innere Grenze zu haben. Zu wissen: Im Stuhl mir gegenüber sitzt ein Mensch mit seinen Problemen und auf meinem Stuhl sitze ich mit meinen Problemen. Das Problem, der Schmerz, das Elend meines Gegenübers sind nicht meine. Auch wenn sie mich manchmal an etwas erinnern. Ich sitze aber auf meinem Stuhl mit meinem Leben und meinen aktuellen Problemen, einem Zahn, der schmerzt, oder meiner Mutter, die ins Heim sollte, aber nicht will.

Wichtig ist auch, dass meine Probleme irgendwo einen Ort haben: im Gespräch mit Freundinnen, Kolleginnen, in der Supervision. Dann vermischen sie sich nicht so schnell mit den Problemen meiner Klientinnen.

Ich finde aber tatsächlich auch sehr viel Freude in der Arbeit. Ich erlebe viele schöne Entwicklungen bei Menschen und bin stolz auf Vieles, was meine Klientinnen berichten. Was ich mache, ist sehr echt und existenziell. Es ist eine sinnstiftende Tätigkeit, die mir viel gibt. Ich habe eine ganz bunte Praxis: bunte Kissen, bunte Bilder. Heute habe ich noch keine Blumen, aber ich mache es mir bewusst schön hier. Es gibt immer Tee, wenn jemand möchte. Ich umgebe mich mit Schönheit, mit Buntheit – auch zu Hause.

Herzlichen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben für unseren Trauer-Talk.


Wir haben mit Chris Paul noch etwas weitergeschnackt – über die bunten Facetten des Lebens und Trauerns und wie ihr Konzept „Kaleidoskop des Trauerns“ praktisch angewendet werden kann. Lest weiter bei Teil 2 unseres Trauertalks mit Chris Paul.

Wenn ihr noch mehr Experten-Wissen haben möchtet, besucht auch unsere Rubrik Blattwenden fragt… Dort beantworten Trauerexperten unseren Blattwenden-Fragebogen.

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