Vom L(i)eben trotz Sterben

Der Wikinger weiß es vermutlich gar nicht. Aber er hat damals dafür gesorgt, dass mein Herz nicht stehen geblieben ist, nach Markus´ Suizid. Nicht weil wir uns verliebt haben. Das kam erst später. Sondern wegen des Herzschlages. Wegen dieses immer wiederkehrenden, unaufhörlichen Rhythmus, der mich – vermutlich nicht bewusst – daran erinnert hat, was das ist, das Leben. Es ist nicht nur eine Existenz. Oder ein Dahinsiechen. Es ist ein beständiges, kraftvolles Sein. Ein Ja.

Wenn ich heute versuche, mich wieder in diese Situation hineinzuversetzen, nach Markus´ Tod, dann spüre ich vor allem eins: Die nackte Angst. Sie hat lange dahinvegetiert unter der Wut, dem Überlebenskampf und der Trauer. Doch jetzt, nach dem dritten Trauerjahr, darf auch sie ihr Gesicht zeigen, dieses kleine, verhutzelte, scheue kreideweiße Ding da zwischen all den Schichten, in das sie sich verkrochen hatte.

Sie tut mir so leid, diese Angst. Ich habe großes Mitgefühl für sie. Weil sie so ohnmächtig ist. Angst kann gar nichts tun. Außer Erstarren. Oder Wegrennen. Wegrennen war für mich keine Option, mit Kind, Haustieren und  einem Berg Schulden. Also blieb nur das Erstarren. Eigentlich ist es bis vor kurzem noch so gewesen. Bin ich so gewesen. So etwas wie Gips.

Gips lässt sich ab und zu wieder flüssig machen und bröckelt, es ist nicht ganz fest. Aber eben auch nicht beweglich. Vielleicht war ich schon länger so gewesen, nach zwanzig Jahren Behinderungen.


Beinahe hätte die Angst nach Markus´ Suizid mein Herz ganz zu Stein werden lassen. Ich gieße Beton, ich weiß, wie schnell das geht. Doch dann hat mir der Wikinger dieses Lied geschickt. Teardrops von Massive Attack. Und darin ist dieser unaufhörliche Lebensrhythmus. Dieser Herzschlag. Der es mir unmöglich gemacht hat, zu erstarren. Ja, ich habe nach dem Suizid eine ziemlich dicke Betonschicht um mich gelagert. Aber mein Herz war darunter immer noch warm und hat kontinuierlich weiter gemacht. Langsam. Aber immer weiter. Schlag für Schlag.

Seit einigen Wochen ist da gar kein Beton mehr. Nicht mal Gips. Und ich kann sie mir in Ruhe ansehen, diese nackte Angst. Dieses zusammengekauerte kleine Ding, das sich so schutzlos fühlt. Ich rede ganz ruhig mit ihr. Ich bewege mich behutsam. Ich nähere mich ihr ganz, ganz langsam. Ich berühre sie vorsichtig. Und warte, bis sie sich wieder beruhigt hat.

Ich spüre, wie sie ausatmet. Unglaublich lange atmet sie aus. Und plötzlich werden ihre Gesichtszüge weich und die Haut entspannt sich und ich darf sie umarmen, die Angst.

Sie ist nun gar keine Angst mehr. Sie ist jetzt nur noch eine Vorsicht. Eine kleine Warnung. Die mich immer wieder daran erinnert, wie kostbar das Leben ist. Und die Liebe.

Meine Güte, die Liebe. Ich hätte nie gedacht, dass sie so sein kann. Oder dass sie auf diesem Weg zu mir kommt. Ich schreibe. Seit über zwanzig Jahren. Ich habe mir Geschichten für Bücher ausgedacht. Kaum ein Film, kaum eine Serie, kaum ein Buch kann mich noch überraschen. Ich weiß, wie man eine gute Geschichte erzählt. Ich kenne mich damit aus. Müsste man meinen. Aber wie der Wikinger in mein Leben gekommen ist, das ist schon eine sehr absurde Sache. Das hätte ich mir niemals so ausdenken können.

Denn eigentlich hatte ich wirklich keine Lust mehr auf Liebe. Zumindest nicht mit einem Partner. Zu meinem Kind, meiner Familie, meinen Freunden – immer. Gerne. Ich liebe die Liebe. Aber einen Menschen nochmal so nah an mich ranzulassen? Nee. Wirklich nicht. Aus mehreren Gründen. Nicht nur wegen meines Betongürtels um mich herum. Auch wegen dem, was Markus´ getan hat. Oder nicht getan hat.


Dazu muss man wissen, dass ich etwas naiv bin. Oder besser gesagt idealistisch. Früher fand ich das unglaublich anstrengend an mir und mit mir. Weil die Welt um mich herum das eben nicht ist. Das zu akzeptieren, diese Spannung auszuhalten zwischen Gut und Böse, das hat mich schon immer viel Kraft gekostet. Trotzdem. Trotzdem habe ich immer zu ihr gehalten, zu der Liebe. Bis heute glaube ich an sie. Bis heute bin ich überzeugt, dass wir alle sie brauchen. Dass wir alle sie uns wünschen. Dass wir letztendlich alles nur wegen ihr tun. Auch Kriege. Aus gekränkter, nicht erwiderter, vorenthaltener Liebe. Sie ist der Dreh- und Angelpunkt.

Das kann man nun idealistisch nennen, oder naiv. Oder auch weise. Jedenfalls bin ich deshalb schon immer bemüht, möglichst liebevoll zu sein. Klar gelingt mir das nicht immer, aber es ist mein Ziel. Gottes Liebe immer wieder ein kleines Stück weit zu leben. Zur Natur, den Tieren, den Menschen um mich herum, auch zu Arschlöchern, auch zu mir. Weil ich ja selbst auch ein ausgemachtes Arschloch sein kann. Machen wir uns nichts vor.

Jedenfalls denke ich, dass es nicht einfach ist für die Menschen um mich herum. So eine idealistische Liebestante in ihrem Leben zu haben. Weil sie sich irgendwann automatisch daran messen. Entweder sie fühlen sich motiviert und machen mit beim Lieben, oder sie brechen mit mir, weil es sie anstrengt und nervt. Oder sie bleiben einfach sie selbst und lieben sich genauso wie mich in ihrer und meiner Unvollkommenheit. Das liebe ich besonders. Denn die erste Variante muss einfach irgendwann zusammenbrechen unter dieser Last, dieser Anstrengung, mich genauso idealistisch zurück zu lieben.

Das denke ich zumindest manchmal. Dass es für Markus unglaublich schwierig gewesen sein muss neben mir. Er war auch ein liebenswerter Mensch. Aber er war auch ein Mensch mit einem großen Liebesbedürfnis. Er wollte mehr Liebe geben, als die meisten Menschen brauchten. Und er brauchte mehr Liebe, als die meisten Menschen geben konnten. In diesem Sinne passten wir ganz gut zusammen. Oder auch nicht. Weil das, was ich gab, nie genug war. Er hatte immer Sehnsucht nach mehr. Und gleichzeitig immer ein schlechtes Gewissen, weil er das Gefühl hatte, mir liebesmäßig nicht auf Augenhöhe zu begegnen.


Markus hat sich geschämt. Nicht nur wegen der Schulden, die er ohne meines Wissens angehäuft hatte. Auch weil er meinte, dass die Bürde, mit einem querschnittsgelähmten Mann zusammen zu sein, zu groß war für mich. Dass er meiner Liebe nicht gerecht wurde. Was natürlich nicht stimmt. Aber das dachte er. Er hat meiner Liebe nicht vertraut. Oder anders: Er hat sich nicht getraut, meiner Liebe zu vertrauen.

Und damit hatte er sogar in gewisser Weise recht. So idealistisch ich auch bin, meine Liebe hält nicht alles aus. Ein Vertrauensbruch wie dieser, unsere Familie so hoch zu verschulden, dass wir alles verlieren, hätte unsere Beziehung vermutlich nicht überstanden. Hat sie letztendlich auch nicht. Heute empfinde ich immer noch Liebe für Markus. Aber sie ist zart, verständnisvoll, freundschaftlich. Und immer mit einer Hab-Acht-Haltung.

Diese Mischung aus Betrug und Verlassen werden hat in meiner Liebesfähigkeit etwas verschoben. Sie hat aus Grundvertrauen Grundmisstrauen gemacht.

Deshalb wollte ich keine Liebe mehr in meinem Leben. Keine, die so nah an mich rankommt. Keine, die mich im tiefsten Inneren berührt. Ich dachte, wenn ich mein Herz wieder für jemanden auf diese Weise öffne, geht dieser Mensch sowieso wieder irgendwann. Ich dachte das nicht nur, ich war davon überzeugt. Und damit meine ich jetzt nicht unbedingt das Sterben. Mit dem Tod müssen wir leben. Und ich kann das mal mehr, mal weniger gut. Was ich aber meine, ist das Verlassen werden an sich.

Gleichzeitig hatte ich Angst, dass ich einen neuen Partner wieder überfordern könnte mit meiner idealistischen Art zu lieben. Ich war der Überzeugung, ich wäre Gift für andere. Dass Menschen, die zu nahe an mir dran sind, sterben. Wenn nicht äußerlich, dann innerlich. Dass sie sich so sehr anstrengen, mich zu lieben, dass sie daran zu Grunde gehen. Es gibt immer noch Momente, in denen ich das denke. Kurz. Leise. Aber es ist da.         


Ich weiß, dass das absurd klingt. So ist das aber mit der Angst. Sie redet uns Gedanken und Gefühle ein, die nicht zum realen Leben passen. Weil sie uns letztendlich schützen will. Sie möchte verhindern, dass wir einen ähnlichen Schmerz wieder spüren. Also sorgt sie durch Versteinerung oder Flucht dafür, dass wir solche Situationen meiden. Tja, aber wie soll so ein idealistischer Liebesmensch wie ich auf Dauer vor der Liebe weglaufen? Im wahrsten Sinne ein No-Go.

Nicht lange nach Markus´ Tod, vielleicht nach ein paar Wochen, bekam ich Besuch von einem Freund, der ebenfalls Witwer war. Seine Frau, eine gute Freundin von mir, war fast zwei Jahre vorher durch einen Verkehrsunfall gestorben. Genauso wie ich war er alleinerziehend geworden. Wir gingen spazieren und irgendwann sagte er, es wäre nicht gut für uns, wenn wir uns der Liebe verschließen würden, nur weil wir eine verloren hätten. Und dann rückte er damit raus, dass er sich wieder verliebt hatte.

Ich habe mich riesig für ihn gefreut. Mittlerweile ist er wieder verheiratet und die Kinder haben eine neue Mama. Er machte mir Mut, mein Herz offen zu halten für jemanden, der da vielleicht noch käme. Zu dem Zeitpunkt war ich emotional einerseits tief erschüttert durch Markus´ Suizid, aber auch offen für alles, was danach kommen würde. Ich hatte einen regelrechten Hunger nach Leben – als Gegenpol zum Tod, den Markus´ gewählt hatte. Da war es wieder, dieses Trotzdem. Ich wollte trotzdem leben. Oder jetzt erst recht.


Aber Lieben? Soweit ging meine Offenheit nun wirklich nicht. Das war etwas, was ich mir in keinster Weise vorstellen konnte. Ich mochte nicht mal einen Gedanken daran verschwenden. Auch wenn ich – ich gebe es zu – an einem Abend wie fast immer nach Markus´ Suizid mit dem Felllappen spazieren ging und Gott sagte, dass ich nicht mein ganzes Leben alleine leben wollte. Ich dachte da aber eher an eine WG oder Freunde oder eine Kooperation mit anderen Alleinerziehenden. Mit dem Wikinger hätte ich damals niemals gerechnet.

Dabei habe ich vorher schon von ihm geträumt. Das ist mir aber erst viel später wieder eingefallen. Ich träume oft intensiv, ganze Spielfilme, und das meiste davon ist Bullshit oder der Versuch meiner Seele, die vielen Eindrücke eines Tages zu verarbeiten. Deshalb habe ich dem auch nicht viel beigemessen, als ich Markus von einem dieser wilden Sequenzen erzählt habe. Ich weiß nicht mehr, wann es war. Die Lütte Locke gab es jedenfalls schon.

„Komisch. Heute Nacht habe ich wieder was echt Merkwürdiges geträumt. Da ist ein fremder Mann unten im Haus durch den Flur gelaufen und im Traum war er mir auch vertraut. Aber in Wirklichkeit kenne ich ihn nicht“, meinte ich kauenderweise am Frühstückstisch. Darauf sagte Markus: „Na, vielleicht ist das der Mann, der nach mir kommt.“

Ich hielt das für einen seiner blöden Witze und hab ihm unter dem Tisch gegen den Rolli getreten. Ob er gegrinst hat, weiß ich nicht mehr. Heute weiß ich aber, dass er damals schon über Suizid nachgedacht hat.


Den Wikinger kannte ich schon, als Markus noch lebte. Eigentlich seit meinem Geburtstag vor drei Jahren. Es war Mitternacht und ich war noch in einem Onlineforum unterwegs, als mir plötzlich genau um null Uhr jemand zum Geburtstag gratulierte. Das war der Wikinger.

Wir fingen an uns zu schreiben. Wir teilten mehrere Interessen: Er lebte wie wir in einem Landhaus in Ostfriesland, mit großem Grundstück, an einer oft befahrenen Landstraße. Er mochte die Natur genauso wie ich. Genauso wie die Liebe zu den Menschen und den Respekt. Wir hörten ähnliche Musik, mochten die gleichen Filme und teilten dieselbe Art Humor. Was nicht leicht ist, weil ich einen sehr speziellen Humor habe. Einen derben, männlichen. Einen, der oft drüber ist und nicht besonders feinfühlig. Wir mussten einander nicht viel erklären, wir verstanden uns einfach. Gleichzeitig konnten wir vieles voneinander lernen. Sich mit ihm auszutauschen war leicht, inspirierend und machte einfach Spaß.

Wir beschlossen, uns zu treffen. Der Wikinger fragte, ob Markus und die Lütte Locke mitkommen wollten, aber Markus meinte, das wäre ja mein Brieffreund, da solle ich ruhig allein hingehen. Doch zu dem Treffen kam es nicht mehr. Vier Tage vorher verschwand Markus. Und beging Suizid.


Während Markus verschwand, blieb der Wikinger am Rande ein Teil meines Lebens. Wir blieben „Brieffreunde“, wechselten nach Markus Suizid aber zu Sprachnachrichten. In einer dieser Nachrichten schickte er mir dann auch diesen unbewussten Herzschrittmacher, diesen Song von Massive Attack. Schlag für Schlag ging es weiter. Trotz Sterben.

Überhaupt war diese Art der Kommunikation nach Markus Tod ein Segen für mich. Ich konnte schnell und persönlich Informationen austauschen und sie beantworten, wenn ich es konnte. Denn viel Zeit blieb mir nicht. Zeit war für mich etwas, was für andere ein Lottogewinn war. Ich hatte plötzlich keine mehr. Nicht für mich, nicht für die Lütte Locke, nicht für Freunde. Geschweigedenn für den Wikinger.

Er allerdings hatte Zeit. Seine Arbeitssaison als Händler auf Mittelaltermärkten und Festivals ging langsam zu Ende. Also bot er mir etwas von seiner Zeit an. Ich sagte spontan ja.

Damals entschied ich alles aus dem Bauch heraus. Eine Fähigkeit, die mir oft den Arsch gerettet hat. In diesem Fall sogar mein Herz.

Der Deal war: Er kommt ein paar Stunden vorbei und passt auf die Lütte Locke auf – falls sie sich darauf einlassen würde –, sodass ich die Aktenberge abarbeiten oder vielleicht sogar mal schlafen könnte. An Schlafen war aber nicht mehr zu denken, nachdem der Wikinger vor der Tür stand.

Der Wikinger.

Tja.

Der Wikinger klingelte wie vereinbart an der Tür. Ich war keine Spur nervös. Nur etwas aufgeregt. Mein Bauchgefühl sagte mir, dass das interessant werden könnte.

Interessant ist ein interessantes Wort dafür.      

Ich öffnete die Tür und da stand er, der Wikinger. Mit orangenem Muskelshirt und einem rosa Pflaster über der frisch rasierten Wange. Mit einem Blumenstrauß und Kuchen in der Hand. Und den Worten: „Ich weiß nicht mehr, was in Deutschland üblich ist, wenn man zum ersten Mal zu Besuch ist: Blumen oder Kuchen? Da habe ich einfach beides mitgebracht.“

Ich musste lachen. Zum ersten oder zweiten Mal seit Markus´ Tod. Blumen. Kuchen. Das waren Luxusgüter für mich. Nicht nur finanziell. Auch die Geste. Ich war so sehr mit Totenmief und Finanzlöchern beschäftigt, dass solche Gesten wie aus einer anderen Welt schienen. Weil es eben keine Kondolenzbriefe mit schwarzem Rand waren. Oder Aufläufe nach der Beerdigung. Oder Trauerblumen. Es waren Zeichen der Lebendigkeit, der Schönheit, des Genusses.

Und dann war da dieser Moment. Eigentlich hat er nie wirklich aufgehört. Wir haben uns in die Augen gesehen und ich habe alles gesehen. Alles, was ihn ausmacht, was er fühlt, was er denkt. Und ich habe in seinen Augen mich selbst gesehen. Anders lässt sich das schlecht beschreiben. Es war weniger als eine Sekunde. Aber von da an wussten wir, wer wir sind.

Niemals musste ich mich vor dem Wikinger verstellen oder verstecken. Das hätte ohnehin keinen Sinn. Weil wir einander sehen. Von Anfang an. 

Im Haus ging es merkwürdig weiter. Der Wikinger setzte sich auf das Sofa und Hund und Katze setzten sich neben ihn, als hätte er da schon immer gesessen. Der Felllappen ist sonst skeptisch gegenüber Männern, die Katze lässt sich manchmal gar nicht erst blicken; manche Besucher wissen gar nicht, dass es sie überhaupt gibt.

Die Lütte Locke, nach dem Tod von Markus noch ein Stückchen mehr vorsichtig als ohnehin schon, nahm den Wikinger mit in den Garten und ging mit ihm Blumen für mich pflücken. Irgendwann nahm sie ihn dabei sogar an die Hand. Ich fand das so kurios. Nicht nur ihre Haare waren gleich, sie hatten auch dieselbe Gangart, wie sie da über die Wiese stiefelten.


Mein Versuch, mich an diesem Tag auszuruhen, scheiterte grandios. Ich konnte nicht schlafen. Mein Herz hüpfte. Mein Kopf ratterte. Da hatte es der Wikinger mit einem Blick geschafft, in unser aller Herz zu schlüpfen. Ich war verwirrt. Gelinde gesagt.    

Als wir am Abend mit dem Fellappen Spazieren gingen, betrachtete ich den Wikinger von der Seite. Und dachte überspitzt amüsiert: Da willst du also jetzt mit einem etwas dicklichen, älteren Niederländer zusammenleben? Denn irgendwie war das klar. Dass er bleiben würde.

Dabei war das Drumherum alles andere als einfach. Denn eigentlich wollte der Wikinger zurück in die Niederlande ziehen. Er hatte rund zehn Jahre in Deutschland gelebt, zwei Jahre zuvor war die Beziehung mit seiner Partnerin in die Brüche gegangen. Alleine konnte er sein altes Landhaus nicht weiter in Stand halten. Gerade hatte er sich auf seine Traumstelle beworben und war in die Endauswahl gekommen. Und dann kam ich.

Tja.

Die Stelle wurde schließlich an den anderen Bewerber vergeben. Der Wikinger verkaufte ein Jahr später sein Haus. Und zog bei uns ein.


Und ich fragte mich, ob ich sie eigentlich noch alle hatte. Ich wollte keine Beziehung mehr. Ums  Verrecken nicht. Wortwörtlich. Ich wollte mein eigenes Chaos aufräumen. Nicht auch noch seins. Ihm ging es genauso. Wir wollten beide keine Retter sein und beide nicht gerettet werden. Aber wir konnten nichts dagegen tun. Sie war einfach da. Sie existierte einfach. Die Liebe.

Vor Markus hatte ich schon eine Beziehung gehabt. Eine Fernbeziehung. Als Teenager. Damals war ich heftig verliebt. Mit Markus war ich beständig verliebt. Aber das mit dem Wikinger. Das war weder das eine, noch das andere. Das war wie Arsch auf Eimer. Wie gesucht und gefunden. Ein bisschen auch wie dieses Baaaaam aus den Hollywoodfilmen. Und weil Hollywood Fiktion ist, traute ich dem Braten nicht. Zusätzlich zu dem Suizid-Hinterbliebenen-Misstrauen-Ding.

Misstrauen hoch zwei.

Eine Devise zwischen dem Wikinger und mir war und ist aber, dass wir immer offen und ehrlich sind. Das klingt auch nach Hollywood, ich weiß. Es ist auch nicht immer einfach. Weil Ehrlichkeit auch wehtut. Aber sie ist der Nährboden für Vertrauen.

Und so kam es, dass es sich mit Herzschlag zu Herzschlag weiter eingeschlichen hat bei mir, das Vertrauen.

Auch das weiß der Wikinger vermutlich nicht. Nicht weil es ein Geheimnis wäre. Sondern weil es so gewachsen ist. Weil es so natürlich ist.

So kam es, dass ich letztens bemerkt habe, dass ich es wieder kann. Vertrauen. Einfach so.

Mein Bauch wusste es von Anfang an, dass ich ihm vertrauen konnte, dem Wikinger. Mit einem einzigen Blick in seine Augen. Aber diese Angst, dieses Erstarren, dieses Misstrauen musste sich erst wieder verstanden fühlen. Und sicher fühlen. Sich umarmen lassen. Und die Wärme spüren. Die Wärme, die jeder von uns braucht. Die Wärme der Liebe. Der Nähe. Des Wir seins.

Seitdem schlägt mein Herz nicht einfach nur vor sich hin. Es lebt. Es liebt.

Trotz Sterben.

Ein beständiges Ja.   

Überleben geht also nach einem Suizid. Sogar Leben geht nach einem Suizid. Und Lieben geht nach einem Suizid. Sogar stärker und tiefer als je zuvor.

Wer hätte das gedacht?

2 Replies to “Vom L(i)eben trotz Sterben”

  1. Wunderschön zu lesen♥️ ich freue mich sehr für euch drei 🙏 und lebe gerade auch so eine Liebe♥️ Danke fürs teilen deiner Gedanken und Gefühle!

  2. Liebe Nicole,

    dein Text geht sowas von mitten ins Herz…
    Holla, die Waldfee…
    ‼️🤗☀️🤗‼️
    Da kann aber EINE punktgenau Worte an einander reihen…
    nackt, ehrlich, leidenschaftlich, ohne Schmalz aber mit Schmackes!!!

    Bin voll beeindruckt und tief berührt…
    🙏🎁Danke, für dieses Geschenk🎁🙏
    🌀
    ♥️Herzlich Anita ♥️

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