Es gibt da etwas, was ich bisher nicht erzählt habe. Weil es mich immer mal wieder innerlich zerreißt. Eigentlich nur in Situationen, in denen es mir ohnehin nicht gut geht. Wenn ich krank bin, einen Hormonabsturz habe, das Wetter tagelang grau ist, ich zu wenig oder zu schlecht geschlafen habe. Dann packt er mich immer noch, dieser Moment. Fast alle Suizidhinterbliebenen kennen ihn. Diesen Moment, von dem man denkt, das hätte alles verhindert. Vielleicht. Möglicherweise. Man weiß es nicht.
Dieser Moment ist eng an meinen Geburtstag geknüpft. Ich weiß nicht mehr genau, wann es war. Schätzungsweise jetzt, Ende Juni, vor drei Jahren. Da stand Markus im Badezimmer und ich wollte mich von ihm verabschieden. Warum, weiß ich nicht mehr. Die Lütte Locke war damals drei, es war der übliche Wahnsinn in einer jungen Familie, in der beide arbeiten und sich Job und Kind und Haushalt nur noch mit schnellen Handgriffen übergeben, ohne viel Zeit zu finden, sich dabei auch noch in die Augen zu schauen.
Im Nachhinein habe ich gedacht, vielleicht war es auch das. Dass es unser Wir nicht mehr gab. Dass wir zwar ein gutes Team waren im Elternsein und als Kollegen in der Beratungsstelle, gute Freunde auch noch, aber ein Liebespaar? Nach Markus´ Suizid habe ich viel darüber nachgedacht, was ich hätte anders machen können, damit es nicht passiert ist. Diese Gedanken helfen nicht weiter, das sage ich anderen in meiner Situation auch immer wieder – weil es auch stimmt! – , aber auf der Suche nach Erklärungen fällt es manchmal leichter, die Schuld bei sich selbst zu suchen. Denn dann hat man wenigstens eine stichfeste Ursache. Doch die gab und gibt es nicht. Zumindest nicht so leicht.
Markus´ Gründe, nicht mehr leben zu wollen, waren vielschichtig und komplex. Man kann nicht einfach nur sagen, er wollte nicht mehr im Rollstuhl sitzen. Oder er hatte Angst vor meiner Reaktion wegen seiner hohen Schulden. Oder dass er an seine Grenzen kam als querschnittsgelähmter Vater. Oder dass der Unfall sich jährte. Oder dass sein Körper ihn schon wieder im Stich ließ und er wieder um sein Leben kämpfen musste. Oder. Oder. Oder.
Und dennoch. Dennoch gab es da diesen einen entscheidenden Moment. Den habe ich verkackt.
Markus stand also im Badezimmer und ich wollte mich verabschieden. Er rollte in den Flur und ich sah ihn direkt an. Ich war genervt. Denn seit Wochen schon ging er auf Distanz. Und ich wusste nicht, warum. Wir haben sonst über alles gesprochen, auch darüber, dass es ihm in letzter Zeit schlecht ging, dass er vielleicht einen Burnout hatte. Er war immer ganz weiß im Gesicht und hatte diesen Ausdruck, diese personifizierte Hoffnungslosigkeit. Obwohl wir unser Leben lang immer nach Lösungen gesucht hatten – für uns persönlich und mit unseren Klienten – machte Markus einfach nicht mehr mit. Er hatte aufgegeben. Und das machte mich wütend. Weil er mich alleine weiter kämpfen ließ. Da schon.
Ich war auch genervt, weil ich instinktiv wusste, dass er etwas vor mir verbarg. Wie oft hatte ich ihn angesprochen, weil ich so ein Bauchgefühl hatte, dass es da etwas gab, was er mir nicht sagen wollte. Dass er mich beschwindelte bei den Antworten. Dass es Schulden waren, wusste ich nicht. Dass sie existenziell waren, auch nicht. Dass er diesen ganzen Druck alleine auf seinen Schultern trug. Schon seit vor der Geburt der Lütten Locke. Ich wusste von all dem nichts. Und war so sauer, dass er etwas vor mir versteckte und mich wegschob. Mich nicht mehr Teil seines Lebens sein ließ. Also war ich nicht besonders nett an diesem Tag. Und habe es deshalb verkackt.
Ich habe ihn nochmal in die Augen gesehen, an diesem Tag im Juni, da im Flur vor dem Badezimmer, und habe ihn gefragt: „Markus, jetzt endlich Butter bei die Fische – was, um Gottes Willen, ist los?“ und er fing an zu weinen, lautlos, und flüsterte: „Ich habe alles kaputt gemacht.“ Ein wenig war ich erschrocken, aber auch noch mehr genervt, weil er in letzter Zeit sooft diese Selbstgeißelung drauf hatte, die ich so unnötig fand. Weil ich ihn liebte, so wie er war. Weil mir der Rollstuhl scheißegal war. Weil er ein toller Vater war. Ein professioneller und guter Berater. Ich verstand seine Selbstzweifel nicht und war wütend auf sie, weil sie mir meinen Mann wegnahmen, diese kack doofen Gedanken. Denn früher, da war Markus so lebenslustig und albern und verrückt gewesen. Auch noch im Rolli. Doch all das war tot. Schon seit Wochen und Monaten.
Ich fragte, ganz ruhig: „Was hast du kaputt gemacht? Was meinst du damit?“ und er sagte, ziemlich dramatisch und schluchzend: „Alles! Unsere Familie, unser Leben, einfach alles!“ Heute weiß ich, dass er damit die Schulden meinte. Damals dachte ich, jetzt wird es ja richtig überzogen mit diesem Märtyrertum. Seine Reaktion passte so gar nicht zu unserem Leben, wie ich es sah. Denn bis auf den Schlafmangel gefiel es mir. Sogar ziemlich gut. Denn wir hatten Pläne, Ziele und Hoffnung. Dachte ich. Und sagte: „Das bist nicht du, Markus, das ist eine Depression, die aus dir spricht.“
Und dann kam der point of no return. Ich habe mich hingekniet, ihn umarmt und gesagt: „Du kannst rein gar nichts tun, was meine Liebe für dich negativ beeinflussen würde.“ Ich überlegte kurz. Und fügte an: „Außer du verheimlichst mir was.“
Und das war es dann.
Ich konnte es sehen. Sein Gesicht wurde noch blasser. Falls das überhaupt möglich war. Er starrte mich an und sagte nichts mehr. Ich merkte, dass irgendwas überhaupt nicht stimmte, als hätte es irgendwo leise geklirrt und genknirscht in Markus, und versuchte zurück zu rudern. „Na ja, selbst wenn du mich belügen würdest, würde ich das schon hinkriegen, wenn du mir dann wenigstens die Wahrheit sagst.“ Ich wollte, dass er es endlich ausspuckte. Doch es war zu spät.
Von da an, von diesem Moment an, hatte ich ihn verloren. Für immer.
Das wusste ich damals natürlich nicht. Ich spürte nur, dass er noch mehr dicht machte, noch mehr auf Distanz ging, und dachte, es läge an mir. Dass ich zu wenig feinfühlig bin. Dass ich zu sachlich bin. Zu hart. Vielleicht auch zu dick, zu alt, zu unsportlich. Wenn man die Selbstzweifel erst mal rausholt, dann auch bitteschön die ganze Bandbreite. Kurzum: Dass ich einfach nicht die Partnerin bin, die er in dem Moment gebraucht hätte. Und ein Teil von mir denkt das heute noch.
Obwohl ich weiß , dass es nicht stimmt. Ich weiß, dass dieses Konjunktivdenken nichts bringt. Hätte, hätte, Fahrradkette. Ich weiß, dass er sich vermutlich ohnehin umgebracht hätte. Doch ich weiß auch, dieser eine Moment hat seinen Entschluss bestätigt. Und ich habe dafür gesorgt, dass diese letzte Flamme für immer verloschen ist. Das habe ich verkackt. Ich alleine. Und das ist jetzt kein weiteres Märtyrerdenken, das ist einfach mein Anteil an dieser Geschichte.
Deshalb mag ich meinen Geburtstag auch nicht mehr feiern. Der war einige Tage später. Und für die meisten meiner Freunde der letzte Tag, an dem sie Markus gesehen haben. Es war ein merkwürdiger Geburtstag. Sehr emotional. Weil schön. Mit allen meinen damals engsten Freundinnen. Und trotzdem, ich weiß nicht, feierlich. Weil Markus so emotional war. Weil er sich bei meinen Freundinnen dafür bedankte, dass sie meine Freundinnen sind. Ohne dass ich es wusste, hat er sich da bereits von ihnen verabschiedet.
Deshalb ist mein Geburtstag für mich ein Trauertag, ein Abschiedstag. Die letzten beiden Jahre bin ich an meinem Geburtstag geflüchtet. Dieses Jahr vermutlich wieder. Und wenn ich ganz ehrlich bin, ist es nicht nur, weil ich nicht an Markus´ Gesicht denken will, wie er damals am Tisch saß, so ernst und traurig und dankbar und feierlich. Es ist auch, weil ich diesen Teil von mir, der es verkackt hat, nicht feiern will. Weil ich diesen Teil von mir selbst ablehne und ihn nicht für würdig empfinde, gefeiert zu werden. Weil ich mir wünschte, dieser Teil von mir wäre gestorben und nicht Markus.
Zwei Tage nach mir hatte ein guter Freund seinen runden Geburtstag und feierte groß. Ich und die Lütte Locke konnten nicht mit, aber Markus fuhr hin. Irgendwann rief er von unterwegs an und sprach ganz heiser und zitterig. Er hätte eine Panne gehabt, würde aber vom ADAC Hilfe bekommen und dann wieder nach Hause fahren. Seine Stimme klang merkwürdig. Leise und rauh.
Als er zuhause war, wirkte er mehr wie ein Klumpen Fleisch wie ein Mensch, sein Körper war zusammengesunken, so müde, so müde. Er meinte, er würde vielleicht eine Erkältung ausbrüten. Ein paar Tage später entdeckte ich an seinem Hals hinten ein paar Striemen und fragte zum Scherz, was das denn sei, er wolle sich doch nicht etwa umbringen? Er versuchte, immer noch ziemlich müde, einen Scherz und sagte, er hätte sich beim Rasieren geschnitten. Seine Witze waren in letzter Zeit ohnehin immer weniger und immer flacher geworden. Genauso wie er immer müder geworden war. Also dachte ich mir nichts dabei.
Erst nach seinem Tod erfuhr ich von einem alten Freund, dass er schon damals versucht hatte, sich das Leben zu nehmen. Er schrieb ihm, dass die Zugkraft nicht groß genug war. Seitdem habe ich zu Kabelbindern ein zwiespältiges Verhältnis.
Zwei Wochen danach hat er es dann tatsächlich getan. Er ist gestorben.
Und auch wenn ich weiß, dass es nicht meine Schuld war – das weiß ich! – fühle ich mich mit verantwortlich. Und deshalb einfach nicht mehr wert, meinen Geburtstag zu feiern.
Nun werde ich dieses Jahr vierzig. Ein Grund, warum andere in die Midlifecrisis rutschen oder denken, von jetzt an ist das Leben vorbei oder geht bergab. Weil Bergfest ist und die Hälfte statistisch gesehen rum ist. Ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, es wäre für mich ein Geburtstag wie jeder andere. Obwohl es tatsächlich nur eine Zahl ist, dieses neue Jahrzehnt mit der vier davor. Aber. Ich wünsche mir, dass mein Leben von jetzt an besser wird. Dass ich nicht immer kämpfen muss. Versteht mich nicht falsch, ich kann das gut und ich mag das auch, das Kämpfen. Sich für etwas einzusetzen. Dieses vielleicht etwas naive Bedürfnis, die Welt ein Stück besser zu machen. Doch ich hätte zur Abwechslung gerne mal Pausen zwischendurch. So kleine Wundermomente. Und die gibt es Gott sei Dank ja auch. Aber.
Ich wünsche mir, dass in meinem neuen Lebensjahrzehnt grundlegend etwas anders wird. Besser wird. Weniger Tod. Mehr Sicherheit. Weniger Trauer. Mehr Leben. Und vielleicht. Möglicherweise auch, dass ich es irgendwann wieder schaffe, mich selbst zu feiern. Diesen verkackten Moment zu akzeptieren und zu integrieren. Bei aller Trauer- und Traumaverarbeitung gelingt mir das noch nicht so gut. Mir das zu verzeihen, dass ich den Suizid von Markus nicht verhindert habe. Und mich wieder im Ganzen liebenswert zu finden.
So lange bleibt die Sehnsucht nach einem unbeschwerten Hipp Hipp Hurra. Nach einem ehrlich empfundenen „Wie schön, dass du geboren bist, wir hätten dich sonst sehr vermisst.“ Denn ich fühle mich, ehrlich gesagt, manchmal überflüssig. Zumindest wenn ich krank, müde, hormonmäßig in der Abfahrtsphase und wettertechnisch im Grau bin. Doch vielleicht, möglicherweise, eventuell siegt ja irgendwann Gottes liebevolle Sicht auf mich, sodass ich mich wieder feiern lassen kann. Dass ich von Herzen zu mir selbst sagen kann: Happy Birthday. Du olle Kackbratze.