Der Tag der Picknickdecke

Die Picknickdecke ist das erste, woran ich mich erinnere, wenn ich an den Tag denke, an dem Markus nicht wiedergekommen ist. Wie ich mit Lütte Locke darauf sitze, im Garten, zur Straße schaue und auf das rote Auto warte. An das rote Auto erinnere ich mich nicht so sehr, zumindest nicht in diesem Zusammenhang, denn es kam nicht wieder. Das wiederum ist vermutlich Lütte Lockes erste Erinnerung an diesen Tag, denn noch Wochen später hat sie gefragt, ob das rote Auto bald wieder da ist und damit auch Papa Markus.

Ich erinnere mich an die Oberfläche dieser Picknickdecke, an dieses einst flauschige, mittlerweile abgeschabte Gefühl unter der Handfläche. Daran, wie sie immer klammer wurde, weil es Abend wurde und der Tau alles benetzte. Auch uns. Aber ich weigerte mich ins Haus zu gehen, weil ich da schon instinktiv wusste, dass etwas nicht stimmt. Ich dachte, wenn ich nur lange genug auf dieser Picknickdecke sitze, wie in einer Zeitschleife, dann wird sich dieses mulmige Gefühl im Bauch nicht bestätigen, dann wird alles gut. Wurde es aber nicht.

Irgendwann, relativ spät, es war Ende Juli und wurde schon dunkel, sind wir reingegangen und haben diese Picknickdecke verlassen. Erst im Haus habe ich bemerkt, wie durchgefroren wir waren. Dieses Frieren hat dann lange nicht aufgehört. Es blieb innerlich haften. Bis ein anderer Mensch es irgendwann wieder aufgewärmt hat, aber das ist eine Geschichte für später.

Im Haus habe ich all das gemacht, was wir immer getan haben abends. Nur dass ich alleine war. Und dass Lütte Locke mich immer wieder gefragt hat, wo denn Papa ist und wann er wiederkommt. Und dass ich versuchte ruhig zu bleiben, aber auch ehrlich zu sein. Ich sagte ihr, dass ich es nicht wüsste und dass ich versuche, es herauszufinden.

Das letzte Mal habe ich Markus gesehen, als ich mittags nach Hause kam. Vormittags hatte ich mich mit meiner Freundin Nora getroffen. Wir hatten die nächsten Schritte für unsere Zukunft besprochen. Markus und ich wollten unser Leben umkrempeln, weil es ihm in den letzten Wochen und Monaten immer schlechter ging. Weil er einen Burnout hatte, das Leben auf Spendenbasis ihm Druck machte, wir zu viel für zu wenig Geld gearbeitet hatten. Zumindest war es das, was er sagte. Und was auch stimmte. Was aber längst nicht alles war. Es gab noch viel mehr Gründe, warum es ihm so schlecht ging. Doch das fand ich erst viel später heraus.

Ich kam mit einem optimistischen Gefühl nach Hause. Es gab eine Perspektive, ein Ziel. Ich fühlte mich sicher. Doch wie immer in letzter Zeit verschwand dieses Lebensgefühl sehr schnell, sobald ich mit dem Auto auf den Hof fuhr. Stattdessen machte sich ein schweres Gefühl breit, eine Art Ausweglosigkeit, eine Trauer, die ich mir nicht erklären konnte. Es ging soweit, dass ich körperlich unglaublich müde war und ständig schlafen konnte. Auch an diesem Tag war es so.

Markus und ich gaben uns wie bei einem Staffellauf nur kurz den Stab – also Lütte Locke – in die Hand und dann fuhr er los. Ich war spät dran, er wollte ins Fitnessstudio, danach wollten wir alles besprechen, um uns gegenseitig auf den neuesten Stand zu bringen. Er stand vor der Tür und sagte: „Ich bin weg.“ – „Lass dir ruhig Zeit. Später machen wir was Schönes. Ins Café gehen, oder so,“ entgegnete ich.

Da hat er mich zum letzten Mal angesehen. Er sah so traurig aus. Und hat nichts weiter gesagt. Und dann war er wirklich weg. Für immer.

Als er sich verspätete, dachte ich zuerst, er fährt noch eine Runde ans Meer. Das hat ihm sonst immer gut getan. Als es immer später wurde, versuchte ich ihn per Handy zu erreichen. Er war offline. Also vermutlich noch im Fitnessstudio.

Als ich dort anrief, sagte man mir, dass er eingecheckt hätte und sie ihm ausrichten würden, dass ich angerufen hatte. Also nahm ich an, er wäre vorher noch einkaufen gewesen oder am Meer und jetzt erst im Studio. Das machte mich etwas sauer, weil ich mich auf den Nachmittag mit ihm gefreut hatte, aber ich gestand ihm das auch zu, weil es ihm in letzter Zeit so mies ging.

Bevor ich Lütte Locke ins Bett brachte, rief ich nochmal im Fitnessstudio an. Sie sagten mir, sie hätten ihm meinen Anruf ausgerichtet und er hätte sich gefreut und gesagt, dass er es süß finden würde, dass ich mir solche Sorgen mache. „Süß“ war nicht unbedingt das Wort, mit dem Markus mich sonst betitelte, das fand ich merkwürdig. Doch jetzt wurde ich langsam wütend, weil er das Studio bereits vor einer Stunde verlassen hatte, aber weder nach Hause gekommen, noch mich angerufen hatte.

Erst später entdeckte ich, dass Markus sein Handy gar nicht mitgenommen hatte. Dass es im Badezimmer lag, zusammen mit seiner Armbanduhr. Seine Zeit war abgelaufen, aber die Uhr tickte weiter. Noch viel später fand ich heraus, dass man Markus im Fitnessstudio mit einem anderen Rollstuhlfahrer verwechselt hatte. Er war an diesem Tag nie dort gewesen. Er ist direkt zum Sterben weggefahren.

Lütte Locke ins Bett zu bringen, war an diesem Tag ein Kraftakt. Sie spürte auch, dass etwas nicht stimmte, und wollte wach bleiben, bis Papa nach Hause kommt. Irgendwann gegen halb Neun abends saß ich immer noch an ihrem Bett und sackte plötzlich in mich zusammen. Es fühlte sich an, als ob mir jemand etwas aus meinem Körper schneidet. Etwas Eiskaltes. Besser kann ich es nicht erklären. Ich wusste mit einer absoluten Klarheit, dass ich von jetzt an immer alleine an Lütte Lockes Bett sitzen würde. Lütte Locke schlief trotzdem irgendwann ein. Irgendwann schläft sie immer ein.

Ich war erschöpft. Und wütend. Schrieb Markus zwei, drei Zeilen auf einen Zettel, den ich auf den Esstisch legte. Dass ich sein Verhalten unmöglich fand, und dass ich fast die Polizei gerufen hätte, wenn sie mir im Fitnessstudio nicht gesagt hätten, dass er dort gewesen wäre.

Sobald ich aber im Bett lag, meldete sich dieses Gefühl wieder, dass etwas unwiderruflich anders war. Die bleiende Müdigkeit fehlte, stattdessen war da etwas, das sich anfühlte wie eine Art langsamer Wirbelsturm. Irgendwas trug mich Stück für Stück davon, keine Ahnung wohin, aber ich konnte nicht zurück. Das Land, wo ich herkam, existierte nicht mehr. Der Sturm zerteilte alles in feinste Partikel.

Im Halbschlaf sah ich vor meinem geistigen Auge plötzlich drei Männer, die mir mitteilten, dass Markus gestorben war. Ich setzte mich auf und begann im Internet nach ähnlichen Geschichten zu suchen. Nach anderen Menschen, die spurlos verschwanden – und stolperte über ein Forum, in der eine Frau darüber berichtete, wie es ihrem Mann vor seinem Verschwinden gegangen war.

Mein ganzer Körper war plötzlich auf Hochspannung (und ist es heute noch oft) – das war ja genauso wie bei Markus!

Ich stand auf, öffnete Markus´ Sekretär und fand seinen Laptop – geöffnet. Das war ungewöhnlich, weil er ihn sonst immer herunterfuhr. Ich schaltete ihn ein und fand direkt eine Datei mit dem Titel „Was du jetzt zu tun hast.“

„Nein! Nein! Nein!“ Ich hörte mich selber heiser schreien.

Trotzdem versuchte ich mich zu beruhigen, nahm den Laptop und setzte mich damit aufs Sofa. Ich weinte, ohne es zu bemerken. Irgendwann war die Tastatur nass. Ich las die Liste. Und wusste, dass mein Bauchgefühl Recht hatte. Markus war tot.

Doch die Hoffnung stirbt wahrlich zuletzt, ein anderer Teil konnte es nicht fassen. Und ein dritter Teil, mein Beraterteil, schaltete in den Funktionsmodus. „Wenn du deine eigene Klientin wärst, was würdest du dir raten?“ wurde zu meinem Überlebensprogramm.

Ich rief die Polizei an. Sie machte sich sofort auf den Weg, würde aber erst in einer halben Stunde hier sein. Der Nachteil, wenn man auf dem Land lebt. Dann rief ich zwei Freundinnen an, erreichte sie aber nicht. Danach rief ich eine dritte enge Freundin an, die ich eigentlich lieber außen vor gehalten hätte, weil es ihr gerade selbst nicht gut ging. Doch ich wusste, ich musste jemanden an meiner Seite haben, um die Traumatisierung in Schach zu halten: Wer in extremen Situationen in körperlicher Bewegung sein kann und Kontakt zu einem anderen Menschen hat, kann diese Erfahrungen besser verarbeiten.

Also bewegte ich mich. Ich lief wie ein Tiger im Käfig auf dem Hof hin und her. Bis Svea und ihr Mann gegen Mitternacht ankamen. Fast gleichzeitig mit der Polizei. Die sich großartig verhalten hat. Sie haben mich sofort ernst genommen, eine Fahndung rausgegeben und sind noch in der Nacht alle Plätze abgefahren, an denen Markus sonst unterwegs war. Am nächsten Tag machten sie die Fahndung öffentlich, schon vormittags flog ein Hubschrauber über unser Haus und suchte die nähere Umgebung ab.

Der Tag der Picknickdecke endete nicht mit Mitternacht, denn ich konnte in dieser Nacht nicht schlafen. Svea blieb bei mir auf dem Sofa und versuchte mir immer wieder Hoffnung zu machen. Doch ich wusste, dass Markus tot war. Und überlegte die nächsten Schritte. Was ich wann wie zu tun hätte. Was jetzt aus mir werden würde. Es war wie in einem Katastrophenfilm, in dem man die Flutwelle auf sich zurasen sieht und weiß, gleich ist alles weg, gleich musst du tief Luftholen und um dein Leben kämpfen. Ich ahnte, dass mein Leben, wie ich es bisher kannte, von einem Tag auf den anderen zu Ende war.

Am nächsten Tag kam die Polizei nochmal wieder. Ich rief meine Eltern an, die im Ruhrgebiet leben. Ich bat sie, Markus´ Mama noch nicht zu informieren – erst wenn ich Genaueres wüsste. Nachmittags schließlich klingelte es und Svea öffnete die Tür. Sie brachte die drei Männer herein, von denen ich geträumt hatte. Sie teilten mir mit, dass sie Markus gefunden hatten. Tot.

Erst da endete für mich der Tag der Picknickdecke. Erst da konnte ich für ein paar Minuten schlafen. Für Svea brach eine Welt zusammen. Ich war zunächst hauptsächlich erleichtert. Denn dieses Warten auf jemanden, der nie wiederkommt, ist die Hölle. Und ich benutze dieses Wort ganz absichtlich. Es ist das Schlimmste, was mir je passiert ist. Und mir ist schon eine Menge passiert.

Die Hölle ist ein Konstrukt aus dem Mittelalter; es gibt sie nicht wirklich, auch wenn einige Christen das behaupten. Wer sich ein bisschen mit der Bibel beschäftigt, wird feststellen, dass die Hölle darin mit keinem Wort erwähnt wird. Das braucht sie auch nicht, denn was Menschen zum Teil hier auf der Erde erleben müssen, ist schon Hölle genug. Dieses Warten war ein Teil Hölle.

Nach diesem Tag habe ich mich noch oft auf die Picknickdecke gesetzt. Ich ruhe mich immer noch gerne auf ihr aus. Doch dieser eine Tag auf ihr hat mich für immer geprägt: Wenn heute Menschen, die ich liebe – hauptsächlich Lütte Locke und mein neuer Partner – für mehrere Tage von hier wegfahren, fühle ich exakt dasselbe wie am Tag der Picknickdecke. Ich kann mir noch sooft sagen, dass sie wiederkommen werden, mein Körper schaltet auf Anspannung, mein Gehirn auf Funktionsmodus und ich fühle dieselbe Gewissheit, dass sie nie wiederkommen werden wie an dem Tag der Picknickdecke. Hell reloadet.

Heute, mehr als ein Jahr danach, gehört das zu meinen größten Herausforderungen. Dass ich Menschen freiwillig ziehen lasse und dass ich dann nach einem Besuch in der Hölle erlebe, dass sie wiederkommen. Diese positiven Erlebnisse werden langsam, Stück für Stück, dieses Picknickerlebnis überdecken.

Denn da, beim Warten auf der Picknickdecke, hatte ich keine Bewegung und keine Berührung. Da war ich allein. Auch wenn Gott immer bei mir war – und dafür bin ich unendlich dankbar – konnte er mich nicht umarmen. Ich habe alleine gewartet. Und ein Teil von mir tut das noch heute. Bis die Hölle für immer passee ist. Denn der Himmel wartet.

6 Replies to “Der Tag der Picknickdecke”

  1. Liebe Nicole!
    Liebe Frau Schenderlein!

    Ihr Rundbrief vom 19.12.2016 hat mich sehr bewegt.
    Ich danke Ihnen nun für die ausführliche Darstellung Ihrer Empfindungen. die mich wiederum tief berührt haben.

    Ich wünsche Ihnen Gottes Segen und völlige Genesung sowie bessere Tage.

  2. Liebe Nicole,
    ich bin sprachlos und traurig. Ich hab das nicht gewusst… Ich sehe Markus noch im Foyer bei uns, wir reden und ich freu mich auf das nächste Mal. und ich dachte, das ist erst ein Jahr her – dabei sind es schon mehr. So lange hab ich Euch / Dich nicht gesehen… Ich bin mit Dir traurig. Gott segne und tröste Dich und Deine „Lütte“.
    Martin (j-o)

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